Das Mädchen, das lesen konnte

Zum Vergrößern klicken

Je nach Sichtweise als Utopie oder Dystopie mag man die Welt betrachten, die Marine Francen in ihrem bemerkenswerten Debütfilm „Das Mädchen, das lesen konnte“ beschreibt: Eine Welt ohne Männer, in der Mitte des 19 Jahrhundert eine Handvoll Frauen in einem abgelegenen Bergdorf leben, anfangs voller Illusionen, die bald jedoch von der Realität zerstört werden.

Webseite: www.filmkinotext.de

Le Semeur
Frankreich 2017
Regie: Marine Francen
Buch: Jacques Fieschi, Marine Francen, Jacqueline Surchat, nach der Novelle von Violette Ailhaud
Darsteller: Pauline Burlet, Géraldine Pailhas, Alban Lenoir, Iliana Zabeth, Francoise Lebrun, Barbara Probst
Länge: 98 Minuten
Verleih: FilmKinoText
Kinostart: 11. Oktober 2018

FILMKRITIK:

Frankreich, 1851. Napoleon III. hat sich an die Macht geputscht und die Republik beendet. Wer sich gegen ihn stellt wird verhaftet, verschleppt, oft ermordet. So ergeht es auch den Männern eines kleinen, abgelegenen Bergdorfs in der Provence. Von einem Tag auf den anderen sehen sich die Frauen des Dorfes mit einer Welt ohne Männer konfrontiert, einer Welt, in der sie für sich selbst sorgen müssen.
 
Nur gemeinsam können sie es schaffen, auch wenn die Arbeit auf dem Feld, die sonst von den Männern erledigt wird, ihnen besonders schwerfällt. Doch bald entwickelt sich eine recht gut funktionierende matriarchalische Gesellschaft, in der alle zufrieden scheinen. Doch nicht nur die älteren Frauen vermissen ihre Männer, auch die jüngeren, die gerade ins heiratsfähige Alter kommen. Mehr im Scherz schließen sie während einer Pause einen Pakt: Sollte auch nur ein Mann auftauchen, wollen sie ihn fraulich teilen, in jeder Hinsicht, auch, um das langfristige Überleben des Dorfes zu sichern.
 
Und als wäre er vom Schicksal gesendet, kommt einige Tage später der Schmied Jean (Alban Lenoir) durch das Dorf und wird gern empfangen. Es ist Violette (Pauline Burlet), die ihn begrüßt, ihm Unterkunft gewährt - und sich schnell verliebt. Doch bald pochen die anderen Frauen des Dorfes auf die Einhaltung des Paktes. Die utopische Welt geht zu Ende.
 
Erst vor wenigen Jahren erschien in Frankreich ein kurzes Buch, dass die greise Violette Ailhaud 1919 geschrieben hat. Darin beschrieb sie die Erlebnisse aus ihrer Jugend Mitte des 19. Jahrhunderts, die nun Basis dieses Films geworden sind. Inwieweit sie der Wahrheit entsprechen, ist kaum zu überprüfen, der Erfolg des Buchs deutet jedoch an, welch große Faszination das kurze Aufblühen einer matriarchalischen Welt auf viele Leserinnen und Leser ausübt.
 
In atemberaubend schönen Bildern beschreibt Marine Francen diese Welt, idealisiert das kurzzeitige Leben ohne Männer, das in einer historischen Blase entstehen konnte: Abgeschnitten von der Welt, ohne den Einfluss von Kirche, Polizei oder Gesetz. Doch so schön diese Utopie trotzt aller Härten für eine gewisse Zeit erscheint, zukunftsträchtig ist sie nicht, allein schon wegen der offensichtlichen Notwendigkeit der Fortpflanzung.
 
Dieses Thema wird durch den vieldeutigen Originaltitel „Le Semeur“ angedeutet, ein altmodischer Begriff, der jemand beschreibt, der sät, womit vor allem das Bestellen der Felder gemeint ist, metaphorisch aber auch die menschliche Fortpflanzung, die zum Überleben eine Gesellschaft natürlich ebenso notwendig ist wie das Korn auf dem Feld. Eine weitere Bedeutung besteht durch die Formulierung semeur de faux bruits: Jemand der Zwietracht sät. Was man auf Jean beziehen mag, dem Mann, der unbeabsichtigt Zwietracht in die kleine, autarke Frauengemeinschaft hineinbringt.
 
Hätte ein Mann die Szenen inszeniert, in denen Jean der sprichwörtliche Hahn im Korb ist, bald nach seiner Ankunft die zumindest symbolische Führung der Gemeinschaft übernimmt, hätte man von einem Film sprechen können, der beschreibt, wie sehr Frauen von Männern abhängig sind. Durch den Blick einer Frau hinter der Kamera, wird die Aussage von „Das Mädchen, das lesen könnte“ jedoch vielschichtiger und ambivalenter.
 
Von alternativen Gesellschaftsmodellen ist die Rede, vom Wunsch, unabhängig zu sein, der aber auch von den natürlichsten Trieben untergraben wird. Und auch wenn Francens Film vor über 150 Jahren spielt, ist er in seiner Verhandlung alternativer Beziehungsmodelle, der Möglichkeit einer post-monogamen Lebensweise, doch auch ein ganz zeitgenössischer Film. Vor allem aber eine atemberaubend schön gefilmte Liebesgeschichte und ein in vielerlei Hinsicht herausragender Debütfilm.
 
Michael Meyns