Die Kinder der Utopie

Zum Vergrößern klicken

Vor fast fünfzehn Jahren begleitete der Dokumentarfilmer Hubertus Siegert („Beyond Punishment“) sechs Schüler/innen während ihrer Grundschulzeit in einer Berliner Inklusionsklasse, wo Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen gemeinsam lernen. Dabei entstand der viel beachtete Dokumentarfilm „KlassenLeben“, der 2005 ins Kino kam. Nun hat Siegert die Protagonist/innen von damals erneut besucht und den aktuellen Stand festgehalten. Die dokumentarische Weiterführung trägt den Titel „Die Kinder der Utopie“ und läuft am 15. Mai bei einem bundesweiten Aktionsabend in etwa 100 Kinos, begleitet von Gesprächen zum Thema Inklusion.

Webseite: www.diekinderderutopie.de

Deutschland 2019
Regie & Drehbuch: Hubertus Siegert
Mitwirkende: Christian, Dennis, Johanna, Luca, Marvin, Natalie
Laufzeit: 82 Min.
Verleih: S.U.M.O.
Kinostart: 15. Mai 2019 (bundesweiter Kinoaktionstag)

FILMKRITIK:

Die ehemaligen Grundschüler/innen stehen inzwischen an der Schwelle zum Erwachsenenleben: Luca liebt die Fotografie und studiert Umweltwissenschaften, Dennis startet eine Karriere als Musical-Darsteller, Christian hat sein VWL-Studium abgebrochen und lang über seine Homosexualität gegrübelt, Marvin arbeitet in einer Werkstatt für versehrte Menschen und hat neuerdings den christlichen Glauben für sich entdeckt, Johanna macht eine Ausbildung zur Altenpflegerin, Natalie will ihr Praktikum in einer Großküche als Festanstellung fortführen und bei ihren Eltern ausziehen.
 
Am Anfang kehren die sechs Protagonist/innen gemeinsam an die alte Grundschule zurück. Der Blick auf das Vergangene spielt eine wichtige Rolle. Aufnahmen aus der Schulzeit (vermutlich teilweise aus Teil 1 und teilweise aus dem Rohmaterial) zeigen Achtsamkeitsübungen oder Theateraufführungen und regen die heute Erwachsenen zur Selbstreflexion an. Alle beschreiben das damals vorherrschende Klassengefühl als positiv. Die Rückschau kreist um die Frage, wie sich das Lernen in einer Inklusionsklasse in der Situation selbst angefühlt und auf das weitere Leben ausgewirkt hat.
 
Nach dem gemeinsamen Schulbesuch folgt Hubertus Siegert einer so simplen wie genialen Erzählstruktur: Als erste Protagonistin kommt Luca an die Reihe, bevor Dennis seine Screentime erhält – als Überleitung erfolgt jeweils ein Zweiertreffen, bei dem die wiederholte Eröffnungsfrage den Stein ins Rollen bringt: „Was machst du jetzt eigentlich?“ So entsteht ein Personenreigen, der am Ende passenderweise wieder in ein Gruppentreffen mündet.
 
Die Interviews finden in alltäglichen Situationen statt und wurden teils aus dem Off über die Bilder gelegt. Neben der Vergangenheit geht es zugleich um Pläne und Träume. Für die Zukunft. Die Aufnahmen sind – von vereinzelten Talking Heads abgesehen – durchweg stilvoll und im besten Sinn nüchtern. Leitmotivisch rückt Siegert immer wieder Smartphones, Laptops und andere Screens ins Bild, auf denen Videos aus der Grundschulzeit laufen. Dieser Kniff spiegelt auf elegante Weise die Verknüpfung mit dem Vorgänger „KlassenLeben“.
 
Manchmal ist „Die Kinder der Utopie“ etwas dröge, zumal der Gitarren-Score allzu besinnlich ausfällt. Ein hoch interessantes Projekt ist die Doku aber in jedem Fall. Am Ende schwebt die Kamera in die Höhe und schwenkt über Berlin – der Besuch von Luca, Dennis, Christian, Marvin, Johanna und Natalie ist vorerst vorbei. Schön wäre es, wenn Hubertus Siegert in ein paar Jahren noch mal nachschaut, wie es ihnen ergangen ist.
 
Christian Horn