Die Vierhändige

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Der gewaltsame Tod der Eltern schweißt zwei Schwestern von klein auf zusammen. Eine Symbiose, die sich auch zwanzig Jahre später, als die Mörder nach verbüßter Strafe entlassen werden, nicht lösen lässt. Und dann geschieht ein Unfall, der alles infrage stellt. Effektiver Horror aus Deutschland, der sich geschickt bekannter Mythen bedient – um dann am Schluss die Schraube ein wenig zu überdrehen.

Webseite: www.dievierhaendige-film.de

Deutschland 2017
Regie: Oliver Kienle
Darsteller: Frida-Lovisa Hamann, Friederike Becht, Christoph Letkowski
Länge: 94 Min.
Verleih: Camino
Kinostart: 30.11.2017

FILMKRITIK:

Etwas Seltenes ist hier zu vermelden, ein Horrorfilm aus Deutschland nämlich, und es beginnt gleich mit einem Schock, den man so nicht erwarten konnte. Schlimmer noch: Er legt sich wie ein düsterer Schleier über die nächsten 90 Minuten. Zwei kleine Mädchen, Sophie und Jessica, spielen im Wohnzimmer vierhändig Klavier. Fast eine Idylle. Plötzlich klingelt es an der Tür, zwei bewaffnete Räuber, ein Mann und eine Frau, dringen in die Villa ein. Die Mädchen verstecken sich schnell unter dem Sofa. „Ich passe auf dich auf!“ verspricht Jessica der jüngeren Schwester und hält ihr die Augen zu. Und so muss sie alleine mit ansehen, wie ihre Eltern erstochen werden. 20 Jahre später: Jessica und Sophie leben noch immer im selben Haus zusammen. Zwei schöne, junge Frauen, denen eigentlich die Welt offen steht. Doch aus dem Versprechen von damals ist eine Obsession geworden. Jessica leidet an Wahnvorstellungen, überall sieht sie Gefahren, und so kontrolliert sie Sophie auf Schritt und Tritt. Sophie hingegen will Pianistin werden und ackert für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium. Ausgerechnet jetzt werden die Täter aus der Haft entlassen. Jessica ist wild entschlossen, ihre kleine Schwester vor ihnen zu beschützen, koste es, was es wolle. Doch dann ein Autounfall – Sophie wacht allein im Krankenhaus auf. Jessica ist tot, zumindest muss der Zuschauer das glauben, weil die Bilder so eindeutig sind. Sophie hingegen macht des Nachts die Straßen unsicher – in Gestalt von Jessica. Am anderen Morgen kann sie sich an nichts mehr erinnern…
 
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, dieser oft verfilmte Horrormythos nach dem Roman von Robert Louis Stevenson, grüßt aus der Ferne. Das ist nicht einmal zuviel verraten. Regisseur und Drehbuchautor Oliver Kienle findet nämlich für die Verwandlung seiner Figur Bilder und Motive, denen man zunächst glauben muss. Frech und selbstbewusst bedient er sich der Versatzstücke des Horrorfilms und des Psychothrillers – hier ein flackerndes Licht, dort eine quietschende Tür, dann wieder eine unheilvolle Ecke, hinter der etwas lauern könnte. Und weil Sophie schon an ihrem Verstand zweifelt, spricht sie Nachrichten auf den Anrufbeantworter – in der Hoffnung, so ihre Identität zu greifen. Eine schöne Idee, sowie auch die GPS-Funktion des mobilen Telefons, mit der sie ihre nächtlichen Streifzüge rekonstruieren will. So zieht sich das Doppelgängermotiv, bei dem sich zwei Frauen komplementär ergänzen, durch den ganzen Film. Kienle treibt seine Geschichte mit solchen Ideen voran, er macht keine Gefangenen, und besonders Friederike Becht darf als wilde Jessica, die das tut, was Sophie sich nicht traut, über sich hinausgehen. Doch dann überdreht Kienle die Schraube, es gibt noch eine Wendung, die das zuletzt Gesehene als „falsch“ entlarvt. Als Zuschauer ist man verwirrt. Eine Schwester? Zwei Schwestern? Und kann man alleine vierhändig Klavier spielen? Mit einer Schizophrenen ist man jedenfalls niemals allein.
 
Michael Ranze