Draußen

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Anspruchsvolle Dokumentarfilme im Arthouse-Kino sind so etwas wie die Chilischote für die gute Küche. Sie bringen Pep und Würze in den Kinoalltag, und wenn man’s einmal probiert hat, kann man nicht mehr ohne. Hier kommt so ein Film, der süchtig macht. Es geht um vier Männer, die aus unterschiedlichen Gründen ohne festen Wohnsitz sind. Die Filmemacherinnen machen daraus ein faszinierendes Filmerlebnis, atmosphärisch, formal und inhaltlich fesselnde Begegnung mit vier Schicksalen, wobei die wenigen Besitztümer der Vier eine wichtige Rolle spielen. Aus dem würdevollen Miteinander von Menschen und Dingen entwickeln sich verblüffende und anrührende Einblicke in das Leben außerhalb der Gesellschaft.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Dokumentarfilm
Deutschland 2018
Buch und Regie: Johanna Sunder-Plassmann, Tama Tobias-Macht
Kamera: Sophie Maintigneux, Marie Zahir
80 Minuten
Verleih: RealFiction
Kinostart: Frühjahr 2018

FILMKRITIK:

Wie das Leben so spielt: Manche haben Glück, sie wachsen liebevoll behütet in einer Familie auf. Andere wieder haben Pech und landen im Heim. Oder sie hauen von zu Hause ab, weil sie es nicht ertragen, kommen in schlechte Gesellschaft, geraten auf Abwege und haben niemanden, der sie auffängt. Sie landen im Knast, im Alkoholrausch oder im Drogensumpf oder in allem zusammen, haben keine Arbeit, kein Geld und keinen Menschen, der zu ihnen hält oder mit dem sie es aushalten, und irgendwann sitzen sie auf der Straße. Vier von diesen Typen leben in und um Köln herum und öffnen für den Film ihre Taschen und irgendwann auch ihre Herzen.

Unter der Brücke lebt Elvis, ein Mann mit wallendem weißen Haar und Vollbart, der sicherlich nicht zufällig an Buffalo Bill erinnert. Er ist stets wohlfrisiert und ein großer Freund der Ordnung, seinen Tisch, vielleicht ein Schaumstoffwürfel, dekoriert er feinsäuberlich mit einem 1. FC Köln-Fanschal, darauf wird millimetergenau das Kunstblumentöpfchen platziert. Es ist ihm wichtig, dass die Leute, die vorbeikommen und vorbeifahren, sehen können: „Da lebt einer auf der Straße, aber der hält Ordnung und der hält seine Ecke sauber.“ Der Verkehrslärm scheint ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil sieht es so aus, als ob ihm die beinahe ständige Anwesenheit von Menschen eine gewisse Sicherheit gibt. Sein Nicht-Wohnsitz ist der Versuch einer Idylle auf fünf Quadratmetern, der Elvis-Fan hat sich eingerichtet mit seinem Leben, so scheint es. Er ist im Heim aufgewachsen.

„Da reichen vier Pfandflaschen, und schon kann man sich den ganzen Tag ernähren“, sagt der Mann im Wald, der von Haferflocken lebt, wenn er nichts anderes hat, und von dem, was er so findet. Er hat keine Angst im Wald – die Menschen haben vor ihm Angst. Zusammen mit seinem Kumpel, dem Pflastermaler, schläft der Kasache am Parkrand in einem Zelt. Er schreibt ein Schild, mit dem er um Geld bittet. Er ist drogensüchtig, von seiner kriminellen Vergangenheit erzählt er mit einem leichten Lächeln. Vielleicht schwingt Stolz dabei mit, sicherlich auch Verlegenheit. Sie sind ab und an mal verlegen, die vier Männer – doch sie schämen sich nicht, sind sich dessen bewusst, wer und was sie sind, ohne sich zu rechtfertigen. Was passiert ist, ist passiert und lässt sich nicht mehr ändern. Die Zukunft spielt für sie keine Rolle. Sie sind raus aus dem großen Spiel, sie sind draußen, und damit ist nicht nur der Aufenthalt im Freien gemeint, sondern auch durchaus symbolisch der Bezug zur Gesellschaft. Hier draußen reduziert sich das Menschsein aufs Wesentliche. Ehe, Familie, Arbeit, Eigentum, etwas aufbauen … all das ist für sie unwichtig. Sie sind Überlebenskünstler.

„Wir sind Trash“, sagt der Pflastermaler, der mit Vierzehn von seiner Mutter rausgeschmissen wurde. „Und dementsprechend sind auch unsere Sachen.“ Diese wenigen Besitztümer spielen eine große Rolle im Leben der Männer. Meist handelt es sich um nützliche Dinge, um unverzichtbare Requisiten für den Alltag. Wenige persönliche Erinnerungen sind dabei, sie werden sorgsam gehütet. Der Mann aus dem Wald hat ein paar Bücher, die ihm das Überleben in der Natur erleichtern, darunter ein Pilzbestimmungsbuch und „Essbares aus der Natur“.

Diese Gegenstände werden von den Filmemacherinnen inszeniert. Johanna Sunder-Plassmann, Tama Tobias-Macht erwecken die Dinge über ihre Besitzer zum Leben, sie erschaffen Tableaus, indem sie die Habseligkeiten arrangieren, zunächst sind es wenige Dinge, scheinbar zufällig, die in Bezug zueinander stehen: die Haarpflegeutensilien des Elvis-Fans, die Messer des Mannes im Wald, ein rotes Herzkissen … Angepinnt an Betonwänden hängen Schuhe und Notizhefte, wie merkwürdige Früchte baumeln Campingbestecke von Ästen. Am Ende entstehen geheimnisvoll beleuchtete, schräge Bühnenbilder um die Behausungen der Männer. Die Dinge scheinen zu schweben, als ob sie ihre Besitzer umkreisen, das sieht dann oft sehr schön aus und sehr würdevoll.

Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht lassen ausschließlich ihre Protagonisten sprechen. Sie kommentieren und bewerten nicht, ihr Statement ist ihr Film – eine atmosphärisch starke und trotz des artifiziellen Ansatzes sehr untheatralische Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit. Hier ist kein Platz für Sozialromantik, obwohl die vier Helden jede Voraussetzung dafür mitbrächten. Diese Männer wollen und brauchen weder Mitleid noch Helfersyndrome. Aber die beiden jungen Filmemacherinnen bieten ihrem Publikum mehr als eine wohlfeile, platte Emotionalisierung. Dadurch erzielen sie eine deutlich größere Wirkung. Sie laden ein zum Diskurs und zum Fragenstellen: Was ist schiefgegangen im Leben der Vier? Und ist überhaupt etwas schiefgegangen? Wer sind diese Menschen mit den handgeschriebenen Bettelschildern, an denen wir oft so achtlos vorübergehen? Welche Geschichten verstecken sich hinter den Gesichtern? Und letztlich geht es um das eigene Selbstverständnis, ums Warum. Denn manche haben einfach Glück und wissen es nicht zu schätzen.

Gaby Sikorski