Martin Eden

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Vor über 100 Jahren schrieb Jack London seinen autobiographischen Roman „Martin Eden“, den der italienische Regisseur Pietro Marcello nun gleichermaßen werkgetreu wie zeitlos inszeniert. Der Schauplatz ist nun unzweideutig Neapel, die Zeit dagegen weitaus weniger klar zu benennen, denn Marcello springt durch das gesamte 20. Jahrhundert und reflektiert dabei die Schwierigkeit, den eigenen Moralvorstellungen treu zu bleiben.

Webseite: www.piffl-medien.de

Italien/ Frankreich/ Deutschland 2019
Regie: Pietro Marcello
Buch: Pietro Marcello & Maurizio Braucci, nach dem Roman von Jack London
Darsteller: Luca Marinelli, Jessica Cressy, Vincenzo Nemolato, Marco Leonardi, Denise Sardisco, Carmen Pommella
Länge: 129 Minuten
Verleih: Piffl
Kinostart neu: 26.8.2021

FILMKRITIK:

Martin Eden (Luca Marinelli) ist Seemann in Neapel, von kräftiger Statur, mit markantem, attraktiven Gesicht, aber unterentwickeltem Geist. Auf den Docks rettet er den Adeligen Arturo (Giustiniano Alpi) vor Schlägern, eine noble Tat, die ihm Eintritt in die Kreise der Aristokratie verschafft. Dort wird er wegen seines tumben Charmes gleichermaßen verlacht wie bewundert, vor allem von Arturos Schwester Elena (Jessica Cressy), die Martin klarmacht, dass ihn ohne Bildung niemand ernst nehmen wird.

Und so beginnt Martins Weg zum Wissen, er beginnt zu lesen und zu studieren, geht auf Wanderschaft und findet bei der Witwe Maria (Carmen Pommell) Unterschlupf. Unentwegt schreibt Martin düstere Geschichte voller Tragik, die immer wieder abgelehnt werden, bis er eines Tages endlich veröffentlicht wird. Doch der Ruhm macht ihn nicht glücklich, im Gegenteil. Dass er nun von den selben Menschen, die ihn einst ausgelacht haben, bewundert und gefeiert wird, auch wenn er glaubt, im Herzen der gleiche geblieben zu sein, lässt Martin an der Gesellschaft verzweifeln.

Durch die Begegnung mit dem an Tuberkulose leidenden Philosophen Russ Brissenden (Carlo Cecchi) beginnt er, sich mit Formen des Sozialismus zu beschäftigen, lernt die Thesen Herbert Spencers kennen, bleibt jedoch stets Spielball der Ströme des 20. Jahrhunderts, von Ungerechtigkeit und dem aufkommenden Faschismus.

Durch seine Erfolgsromane „Wolfsblut“, „Ruf der Wildniss“ und „Der Seewolf“ war der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Jack London Anfang des 20. Jahrhunderts binnen weniger Jahre zu einem der berühmtesten Autoren der Welt geworden. Plötzlich standen ihm alle Türen offen, fand er sich als Teil der amerikanischen High-Society wieder, hatte Zugang zu einer Welt, die er im Herzen verachtete. Seine Erfahrungen in dieser Welt, die er als scheinheilig und verlogen wahrnahm, verarbeitete London im 1910 erschienen autobiographischen Roman „Martin Eden“, der inzwischen als sein bedeutendstes Werk gilt.

In seiner Adaption hält sich der italienische Regisseur Pietro Marcello nun einerseits penibel an die Vorlage, erweitert sie durch einen brillanten Kunstgriff aber zu einem schonungslosen Blick auf das gesamte 20. Jahrhundert und vielleicht auch unsere Gegenwart. Von den ersten Bildern an durchzieht eine seltsame Zeitlosigkeit das Geschehen, fällt es schwer, die Bilder einer bestimmten Ära zuzuordnen. Unweigerlich sucht man nach Zeichen, nach Kleidung, nach Ausstattungsmerkmalen, die den Film eindeutig dieser oder jener Ära zuordnen würden. Doch vergebens, denn sobald ein alter Fernsehapparat etwa auf die 50er Jahre schließen lässt, deuten markante Hüte unweigerlich auf die 10er Jahre; sobald ein Name wie Mattei fällt, denkt man an das Italien der 60er, bevor später unzweideutig die Schwarzhemden des italienischen Faschismus auftauchen, man sich also eigentlich vor dem Zweiten Weltkrieg befinden muss.

Zusammengehalten wird dieses bewusst irritierende Spiel mit der Zeit zum einen durch die physische Präsenz des Hauptdarstellers Luca Marinelli, der für seine brillante Performance in Venedig mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet wurde. Zum anderen durch den Gedanken, dass das Individuum unweigerlich daran scheitert, sich gegen die Strukturen der Gesellschaft durchzusetzen. Nicht Martin Eden verändert durch seinen Ruhm die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft verändert ihn. Seine sozialistischen Gedanken gehen verloren, sobald er selbst Teil der sozialen Schicht wird, die er eigentlich ablehnt. Hier Bezüge zur Gegenwart zu finden, fällt nicht schwer, was Pietro Marcellos faszinierenden, reichen „Martin Eden“ zu einem durch und durch modernen Film macht, auch wenn er optisch wirkt, wie aus einer anderen Zeit.

Michael Meyns