Sunset

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Wie ein merkwürdiger Traum entspinnt sich die bildsprachlich interessante, inhaltlich komplizierte Geschichte. Im Mittelpunkt steht die junge Hutmacherin Iris, die 1913 nach Budapest kommt und bald in seltsame Ereignisse verstrickt wird. Nach seinem aufsehenerregenden Holocaust-Thriller "Son of Saul" greift László Nemes in ähnlicher Bildsprache nach einem anderen und doch verwandten Thema: die K.u.K.-Monarchie am Vorabend des 1. Weltkrieges. Die spektakuläre, atmosphärisch intensive Visualisierung dürfte vor allem Filmkunstfans mit cineastischer Vorbildung ansprechen.

Webseite: www.mfa-film.de

Originaltitel: Napszállta
Land: Ungarn 2018
Regie: László Nemes
Drehbuch: László Nemes, Clara Royer, Matthieu Taponier
Darsteller: Juli Jakab, Vlad Ivanov, Evelin Dobos, Susanne Wuest, Marcin Czarnik, Judit Bárdos, Benjamin Dino
Länge: 142 Minuten
Verleih: MFA+
Kinostart: 28.02.2018

FESTIVALS/PREISE:

2018 Internationale Filmfestspiele Venedig, FIPRESCI-Preis

FILMKRITIK:

Iris Leiters Reise nach Budapest ist eigentlich eine Rückkehr zu ihren Wurzeln, denn dort betrieben ihre Eltern den weithin bekannten Hutmodesalon Leiter. Sie kamen bei einem Feuer ums Leben. Iris‘ unerwartetes Auftauchen löst im Nachfolgebetrieb Irritationen aus, auch weil sie einen älteren Bruder hat, der in politisch motivierte Verbrechen verwickelt sein könnte und versucht haben soll, den neuen Inhaber des Hutsalons, Herrn Brill, zu töten. Iris stellt bald fest, dass im Salon Leiter bei weitem nicht alles so hübsch und adrett ist, wie es nach außen für die wohlhabende Kundschaft demonstriert wird. Aus den zahlreichen Mädchen, die hier offenbar auch nach optischen Kriterien für die Arbeit ausgewählt werden, sticht Iris schon aufgrund ihrer Ernsthaftigkeit heraus. Sie geht auf die Suche nach ihrem Bruder und begibt sich dabei in Gefahr, weil sie unversehens zwischen die Fronten des dekadenten K.u.K.-Regimes, eines Elendsproletariats und ungarischer Freiheitskämpfer gerät. Später entdeckt sie geheimnisvolle Verbindungen zwischen österreichischen Adligen und Herrn Brill, die im Zusammenhang mit dem Verschwinden einer jungen Hutmacherin stehen.
 
Wie Iris nach Budapest kommt und die Stadt für sich entdeckt, hat sehr viel von einem Traum oder von einem Märchen, das nicht unbedingt auf ein gutes Ende hinarbeitet. Die visuelle Gestaltung ist exzeptionell. László Nemes und sein Kameramann Mátyás Erdély arbeiten mit vielen tracking shots und mit langen Verfolgungen frontal ins Bild hinein. Bei diesen Kamerafahrten ist Iris oft von hinten zu sehen, wobei die Blickachse und die Handlungsachse identisch sind. Die Kamera heftet sich buchstäblich an Iris‘ Fersen. Die Wirkung ist exorbitant: Die Zuschauer werden förmlich ins Bild hineingesogen. Dabei bleibt die direkte Umgebung oft in der Unschärfe, der Fokus ist also relativ klein und beschränkt sich auf Iris, die auf diese Weise sehr verloren wirkt: eine einsame junge Frau inmitten der Menschenmenge. Dazu kommt eine Geräuschkulisse von verwirrender und beunruhigender Intensität. Diese wirkungsmächtigen Effekte verfliegen allerdings im Verlauf des Films, der fast zweieinhalb Stunden dauert, und zwar durch schiere Abnutzung. Leider. Praktisch ständig ist die Kamera in Bewegung. Nahaufnahmen zeigen vor allem Iris, eher selten die anderen Charaktere. Sie steht eindeutig im Mittelpunkt und ihre Entwicklung mit ihr. Anfangs wirkt sie eher neugierig, sogar ein wenig naiv. Später wird sie mutiger, sie begibt sich mit voller Absicht in Gefahr, heldenmütig stürzt sie sich in Nachforschungen, gerät dabei in beängstigende und rätselhafte Situationen und hat immer wieder Glück. Dabei bleibt einiges im Unklaren. Dies liegt zum einen daran, dass es praktisch keine erklärenden und ohnehin nur sparsame Dialoge gibt, zum anderen aber auch an der offenkundigen Absicht der Filmemacher, den Zuschauer in Iris‘ Situation hineinzuversetzen. Auch sie versteht nicht alles, auch Iris muss ihren Weg durch ein Labyrinth von Informationen finden, die zum Teil widersprüchlich sind und oft andere Handlungsstränge bloßlegen.
 
Vielleicht ist "Sunset" für Eingeweihte eine ganz einfache Geschichte, die in einer aufwändigen Verpackung geliefert wird. Man weiß es nicht. Die Story wirkt jedenfalls sehr komplex. Der historische Hintergrund scheint gut recherchiert zu sein, ist allerdings nicht unbedingt allgemein bekannt. So könnte es durchaus hilfreich sein, sich intensiver mit der Geschichte der K.u.K.-Monarchie und mit dem Königreich Ungarn zu befassen, oder anders gesagt: Die Handlung bleibt teilweise unklar, was vermutlich Absicht ist. Sie entwickelt sich nicht linear, sondern in mehr oder minder aufeinander aufbauenden Puzzleteilen, Versatzstücken und scheinbar zufälligen Nebensächlichkeiten, die später von Bedeutung werden können. Das geht in Richtung einer Filmästhetik, die von üblichen Erzählstrukturen abrückt und mehr auf die Wahrnehmungskanäle abzielt. Wie verarbeiten Menschen Informationen? Wie nehmen sie ihre Umgebung wahr? Die Verwirrung, die Iris anfangs empfindet, soll sich ebenso auf das Publikum übertragen wie ihr wachsendes Selbstvertrauen. Ihr Weg durch den Film wird dabei weniger von standardisierten Formen des Geschichtenerzählens begleitet als von nicht ganz innovativen, aber doch originellen Darstellungsformen, die stark vom Mainstream abrücken. Dies alles macht den Film im Verlauf immer sperriger, manchmal beinahe unzugänglich – beinahe wie ein elitäres Erlebnis, das nur Eingeweihten vorbehalten ist.
 
Wer sich zusätzlich in der Filmgeschichte und in der Filmkunst sehr gut auskennt, könnte darauf kommen, dass „Sunset“ so etwas wie die moderne Antwort auf Murnaus „Sunrise“ ist. Dies bezieht sich vor allem auf die außergewöhnliche visuelle Struktur. Vielleicht hat sich László Nemes ein bisschen zu viel vorgenommen, wenn er sowohl visuell und strukturell als auch erzählerisch ungewöhnliche Wege beschreiten wollte. Interessant ist der Film auf jeden Fall, vor allem für cineastisch interessierte Kinofans.
 
Gaby Sikorski