Verlorene

Zum Vergrößern klicken

Schwere Themen hat sich Felix Hassenfratz für seinen Debütfilm „Verlorene“ ausgesucht, der auf der Berlinale in der Perspektive Deutsches Kino seine Premiere erlebte. In der süddeutschen Provinz entfaltet sich die archaische, etwas überdeterminierte Geschichte, die zahllose verlorene Figuren in einem Geflecht aus Liebe, Inzest und Erwachsenwerden zeigt.

Webseite: verlorene.wfilm.de

Deutschland 2018
Regie & Buch: Felix Hassenfratz
Darsteller: Maria Dragus, Anna Bachmann, Clemes Schick, Enno Trebs, Meira Durand, Anne Weinknecht
Länge: 91 Minuten
Verleih: wfilm
Kinostart: 17. Januar 2019

FILMKRITIK:

Irgendwo, in einem kleinen Dorf in Baden, wo jeder jeden kennt, wächst die 18jährige Maria (Maria Dragus) auf. Zusammen mit ihrer etwas jüngeren Schwester Hannah (Anna Bachmann) und ihrem Vater Johann (Clemens Schick), der sich nach dem frühen Tod der Mutter allein um seine beiden Töchter kümmert.
 
Die sind ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, Hannah ist längst genervt vom piefigen Dorfleben und denkt schon darüber nach, wie sie möglichst bald aus dieser Welt ausbrechen kann. Maria dagegen scheint ihren Platz gefunden zu haben, spielt an der Orgel himmlische Bach-Kantaten und hat die Rolle der Frau des Hauses scheinbar akzeptiert.
 
Doch zunehmend fällt Hannah Merkwürdiges an ihrer Schwester auf, entdeckt sie immer wieder Blutspuren an ihrer Kleidung und ertappt Maria und ihren Vater schließlich beim Sex in einer abgelegenen Waldhütte. Scheinbar willenlos hat sich Maria dem Missbrauch durch ihren Vater hingegeben, hat komplett die Rolle der Mutter übernommen und sehnt sich doch nach einer Möglichkeit, auszubrechen.
 
Die scheint sich durch den Zimmermann Valentin (Enno Trebs) zu ergeben, der auf der Walz ist und für ein paar Wochen im Haus der Familie unterkommt. Von seinem lebenslustigen, freien Wesen fühlt sich Maria angezogen, doch was würde es für sie und vor allem ihre Schwester bedeuten, wenn sie endlich das Dorf verlassen würde?
 
Ganz allmählich offenbart sich das ganze Ausmaß des Missbrauchs, blickt der Zuschauer von Felix Hassenfratz Debütfilm durch die Augen von Hannah nach und nach hinter die Fassaden der heilen Dorfwelt, von der man schon früh ahnt, dass sie nur eine Fassade ist. Denn vieles an „Verlorene“ - der bewusste Verzicht auf einen Artikel deutet an, dass hier nicht nur eine Person, sondern zwei oder drei oder noch mehr gemeint sind - wirkt bekannt: Das Motiv der betont bürgerlichen Dorfgemeinschaft etwa, in der der sonntägliche Kirchgang noch zum guten Ton gehört, die Fassade gewahrt bleibt und Anzeichen des Missbrauchs geflissentlich ignoriert werden. Hauptschuldiger ist hier jedoch nicht die Kirche, im Gegenteil, Motive oder Ursachen werden bewusst ausgespart, auch Johann selbst wirkt keineswegs wie ein schlechter Mensch, der Missbrauch selbst wird nicht betont schrecklich inszeniert, wirkt eher wie liebloser Sex als eine Vergewaltigung.
 
Dass er dadurch wenig anders wirkt als die ersten Erfahrungen, die Hannah mit Jungs macht oder als die sich langsam entwickelnde Anziehung zwischen Maria und Valentin könnte man für eine Banalisierung des Themas Missbrauch halten, doch Hassenfratz hat anderes im Sinn. Gerade das er nicht dramatisiert zeigt die ganze Beiläufigkeit des Missbrauchs, den Maria seit offenbar vielen Jahren erleidet, der so sehr zu einem normalen Teil ihres Daseins geworden ist, dass er kaum noch bemerkenswert erscheint. Erst durch die Möglichkeit eines Ausbruchs aus dieser Welt, durch die Erschütterung ihrer Realität ändert sich ihr Blick auf ihr Leben. Ein gewagter Ansatz ist das, mit dem vor allem auch die psychologischen Folgen des Missbrauchs angedeutet werden, ein Ansatz den Franz Hassenfratz bis zum Ende konsequent verfolgt und der seinen Debütfilm so bemerkenswert macht.
 
Michael Meyns