Aftersun

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Aus echten und imaginierten Erinnerungen formt Charlotte Wells in ihrem Debütfilm „Aftersun“ das melancholische Bild eines Sommerurlaubs, den eine zwölfjährige einst mit ihrem Vater verbracht hat. Ein atmosphärischer Film, dem es gelingt mit Leerstellen und Auslassungen vom Moment des Erwachsenwerdens zu erzählen.

GB 2022
Regie & Buch: Charlotte Wells
Darsteller: Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall, Sally Messham, Ayse Parlak, Sophia Lamanova

Länge: 101 Minuten
Verleih: Mubi/ DCM
Kinostart: 15. Dezember 2022

FILMKRITIK:

Vor Jahren war Sophie (Frankie Corio) mit ihrem Vater Calum (PaulMescal) im Urlaub. In einem Ressort in der Türkei verbrachten Vater und Tochter ein paar Tage, er war damals vielleicht 30, sie zwölf. Es war einer der wenigen Momente, an denen Vater und Tochter viel Zeit miteinander verbringen konnten, denn im Alltag lebte Sophie bei ihrer Mutter in Glasgow, während Calum in London zu Hause ist.

Mit ihrer Videokamera hat Sophie immer wieder Augenblicke eingefangen, hat ihren Vater gefilmt, sich selbst im Spiegel, hat Momente festgehalten, die sie nun zu entschlüsseln sucht. Denn „Aftersun“ ist eine Rückblende, blickt aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück, zeigt die Erinnerung der älteren Sophie (Celia Rowlson-Hall), die nun selbst vielleicht 30 Jahre alt ist, eben so alt wie es Calum in jenem Sommer war.

Doch woran erinnert sich Sophie genau? Zum Teil sind es Videoaufnahmen, zum Teil Momente, in denen sie selbst anwesend war: Als sie zusammen mit Calum Billard spielte, Vater und Tochter am Pool lagen, abends im Hotelrestaurant aßen. Zum Teil sind es aber auch Momente, die sie unmöglich miterlebt haben kann, Momente etwa, in denen Calum allein ist, von denen er Sophie vielleicht erzählt hat oder Momente, die sich Sophie vorgestellt hat. Einmal sieht man etwa Calum auf dem Balkon des Hotelzimmers stehen, am Ende eines Tages. Er steckt sich eine Zigarette an, schaut nachdenklich in die Ferne, macht Bewegungen, die entfernt an Tai-Chi-Übungen erinnern. Dann zeigt die Kamera Sophie, die schläft, die diesen Moment also gar nicht gesehen haben kann, sich also eigentlich nicht an ihn erinnern sollte.

Erst nach und nach offenbart Charlotte Wells in ihrem bemerkenswerten Debütfilm die Erzählperspektive. Das „Aftersun“ nicht im Präsens sondern im Perfekt erzählt wird, verleiht den gezeigten Begebenheiten eine tiefe Melancholie. Denn es ist nicht die junge, unschuldige Sophie, die unmittelbar die Momente an der türkischen Küste erlebt, die einen weitestgehend unbeschwerten Sommer mit ihrem Vater verbringt, sondern die ältere, lebenserfahrene Sophie, die sich an diese Momente zurückerinnert.

Immer wieder sieht man Szenen auf der Tanzfläche, sieht die ältere Sophie, wie sie ihren selbstvergessen oder auch verlorenen Vater tanzen sieht. Vielleicht versteht sie ihn nun besser, versteht seine Probleme, versteht, was ihn damals umtrieb. Was genau das war bleibt jedoch offen, wenig wird auf den Punkt gebracht, statt Dinge allzu klar zu sagen, zieht Wells stets Auslassungen vor, erzählt in Ellipsen, belässt es bei Andeutungen und verbleibt im Ungefähren. Das Ergebnis ist ein beeindruckender Debütfilm, der von einem melancholischen Grundton durchzogen ist und von der Flüchtigkeit von Erinnerungen erzählt.

 

Michael Meyns