Aheds Knie

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Nach SYNONYMES, der den Goldenen Bären 2019 bei der Berlinale gewann, nun der nächste Film von Nadav Lapid, wieder ein Meisterwerk, diesmal mit offensiv persönlichen Bezügen: ein wilder, wütender Wüstentrip zwischen Politdrama, Musical und Experimentalfilm, voller überbordender Fantasie und von Zorn erfüllt. Im Mittelpunkt steht der Filmemacher X., der zur Aufführung seines neuesten Films in die israelische Wüste reist und dort bis an die Grundfesten seiner Persönlichkeit erschüttert wird. Dabei geht es vordergründig um Meinungsfreiheit und um den Kampf gegen Zensurmaßnahmen, aber eigentlich um die Auseinandersetzung mit Kunst, Leidenschaft und Tod.

Festivals – Auszeichnungen
2021 Internationale Filmfestspiele Cannes – Wettbewerb: Preis der Jury
2021 Toronto International Film Festival
2021 New York Film Festival
2021 Internationales Film Festival Karlovy Vary

Webseite: https://grandfilm.de/aheds-knie/

Israel, Deutschland, Frankreich 2021
Buch und Regie: Nadav Lapid
Darsteller: Avshalom Pollak, Nur Fibak, Yoram Honig, Lidor Ederi, Yonathan Kugler, Yehonathan Vilozni, Naama Preis
Kamera: Shaï Goldman
Länge: 110 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 17. März 2022

FILMKRITIKEN:

Es ist eine dieser Episoden des Nahost-Konflikts, die die ganze Brutalität, aber auch Absurdität der Situation verdeutlichen. Die damals 17jährige palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi wurde 2017 verhaftet, weil sie angeblich israelische Sicherheitskräfte bedroht hatte. Schließlich wurde sie verurteilt und musste sieben Monate der Strafe absitzen. Dazu tweetete Bezalel Smotrich, Mitglied der nationalreligiösen Partei Habayit Hayehudi und ein Sprecher des israelischen Parlaments, der Knesset, dass diese Strafe viel zu gering sei und Tamini mindestens eine Kugel in die Kniescheibe verdient hätte.

Mit Bildern eines Knies beginnt dementsprechend Nadav Lapids „Aheds Knie“, der Nachfolger seines internationalen Durchbruchs „Synonyms“, mit dem er vor zwei Jahren den Goldenen Bären der Berlinale gewann. Dort ging es um einen jungen Israeli – ein Alter Ego Lapids – der sein Land nach dem Militärdienst verließ und in Paris versuchte, seine israelischen Wurzeln zu verdrängen. Diesmal heißt die Hauptfigur Y (Avshalom Pollak), ist Filmregisseur, der gerade einen großen Erfolg auf der Berlinale gefeiert hat und einen Experimentalfilm über Aheds Knie plant. Doch das Casting gestaltet sich schwierig und dann muss Y auch noch in eine Siedlung in der unwirtlichen Arava-Wüste im Süden Israels fliegen, wo sein Film in einer Bibliothek gezeigt wird. Die dortige Bibliothekarin Yahalom (Nur Fibak) erweist sich als großer Fan, kann jedoch nicht vermeiden, Y ein Formblatt vorzulegen, auf dem er ankreuzen muss, worüber er nach dem Film diskutieren möchte.

Dieser tatsächlich echte Vorgang geht auf eine Initiative der ehemaligen Kulturministerin Miri Regev zurück, die auf diese Weise Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen wollte, oder – um es deutlicher zu formulieren – Zensur ausübte. Nicht über heikle Themen wie den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in den besetzten Gebieten, Brutalität gegenüber den Palästinensern oder willkürliche Sippenhaft gegen die Familien von tatsächlichen oder mutmaßlichen Gewalttätern soll diskutiert werden, sondern über jüdische Identität, Heimat, den Holocaust.

Drastische Kritik an diesen Regelungen, ja, am ganzen Land übt Lapid in seinem Film, zeigt sein Alter Ego Y als wütenden, aufbrausenden aber auch nicht gerade sympathischen Wutbürger. Die einzigen zärtlichen Momente sind Tonaufnahmen, mit denen Y Kontakt mit seiner Mutter hält. Auch Lapid war seiner Mutter sehr nahe, mit ihr schrieb er seine Filme, sie war seine Cutterin. Während des Schnitts an „Synonyms“ verstarb sie, nur Wochen später schrieb Lapid das Drehbuch zu „Aheds Knie“, auch die Dreharbeiten dauerten nur 18 Tage. Ein Schnellschuss in gewisser Weise, ein roh dahingeworfener Film, der lange Zeit von seiner wütenden Energie lebt – die aber auf Dauer auch ermüdet. So stilistisch eindrucksvoll „Aheds Knie“ ist, oft mit extremen Nahaufnahmen arbeitet, mit reißenden Kameraschwenks die nervöse Perspektive von Y zu evozieren scheint: Da Lapid keine Geschichte im klassischen Sinn erzählt, sondern Gedanken, Ideen, Kritikpunkte assoziativ aneinanderreiht, wirkt sein neuer Film wie eine Skizze. Wenn auch die eines der interessantesten Regisseure des aktuellen Autorenkinos.

 

Michael Meyns

 


Ein Casting … der Filmregisseur X lässt junge Frauen vorsprechen. Er plant einen Film über die palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi, die vor einigen Jahren als 16-Jährige für acht Monate ins Gefängnis kam, weil sie einen israelischen Soldaten geohrfeigt hatte. Im Anschluss an die Probeaufnahmen reist X, der in der hebräischen Originalfassung Y (der hebräische Buchstabe Yod) heißt, in den Süden Israels. Dort, in einem gottverlassenen Wüstennest, soll er seinen letzten Film präsentieren. Er wird herzlich von Yahalom empfangen, einer jungen Frau, die als Einheimische die Veranstaltung organisiert hat und sich nebenbei als stellvertretende Leiterin aller israelischen Bibliotheken vorstellt. Sie erwartet von ihm, dass er für den Filmabend ein Formular ausfüllt, mit dem er versichert, kritische Themen nicht anzusprechen. Nur eine klitzekleine Formalität … doch X verweigert die Unterschrift. Stattdessen beginnt eine Auseinandersetzung mit Yahalom über die aktuelle Situation Israels und den Zustand der Kultur – eine Debatte, die durch einen Wüstenspaziergang, die Vorführung des Films und durch X’s Gespräche mit seiner schwer kranken Mutter unterbrochen wird, aber noch lange nicht beendet ist.

Deutlich weniger komisch als SYNONYMES, dafür eher melancholisch, vor allem aber zornig und wütend bis zur Verzweiflung und sehr musikalisch – so zeigt sich Nadav Lapids Film und mit ihm sein Alter Ego, der Filmregisseur X, und zwar über so offensichtlich persönliche Bezüge, dass AHEDS KNIE nicht nur autobiographisch, sondern autofiktional genannt werden kann und sollte: X, also eine Person, bei der es sich eindeutig um den Autor selbst handelt, wird in eine fiktionale Handlung versetzt. Letztlich ist nichts, wie es scheint. Nadav Lapid wechselt die Stimmungen beinahe im Minutentakt, er spielt mit der Kamera, lässt sie wieder tanzen und springen, arbeitet mit Reißschwenks und schnellen Veränderungen der Blickrichtung, er experimentiert mit Bildern und Tönen und findet immer wieder neue betörende Einstellungen, von oben und unten, von fern und nah, wobei er X manchmal bis in die Gesichtsfältchen kriecht. Dabei entwickelt der Film einen eigenen Rhythmus, was auch an den eingestreuten Musik- und Tanznummern liegt. Vieles wirkt improvisiert, was kein Wunder ist, denn der Film entstand in denkbar kurzer Zeit. Das sieht man und das soll man sehen – AHEDS KNIE ist ein Film wie ein Wutanfall: spontan, emotional, lakonisch und bissig.

Lapids X ist besessen von Bildern, er filmt beinahe die ganze Zeit mit seinem Handy. Der Film ist sein Lebenselixir. Es scheint, als wolle er um sich herum alles festhalten, und es wird immer deutlicher, dass er kaum noch Halt findet. Der Filmemacher X ist ein zynischer Rebell, im Kern aber jemand, der zutiefst verunsichert und traurig ist. Vielleicht wünscht er sich Leichtigkeit und Unbeschwertheit, was er bekommt, sind immer mehr Belastungen. Aheds Knie, zart und stabil zugleich, steht dabei am Anfang und stellt den Bezug zu der jungen Palästinenserin her, die den Titel inspiriert hat: Ein israelischer Politiker wünschte sich über Twitter, dass jemand Ahed Tamimi ins Knie schießen sollte, damit sie ihr Haus nicht mehr verlassen könne. Als roter Faden für die Handlung fungiert die Filmvorführung, um die sich alles rankt: die Auseinandersetzung mit Yahalom, die in eine Art Western-Showdown mündet, X‘ens Aufarbeitung seiner Militärzeit, in teils amüsanten, teils erschreckenden Szenen als Rückblenden. Zu den amüsanteren zählt der Tanz der Soldaten, ein wildes Spektakel mit angedeutet homoerotischem Abschluss sowie der Tanz der Soldatinnen in einer im Gegensatz dazu disziplinierten, sexy angehauchten Choreographie.

Immer wieder konterkariert Lapid seine Bilder, die er teils assoziativ poetisch komponiert und manchmal einfach wütend herausrotzt, wie die Dialoge, in denen er mit der israelischen Politik inklusive der Zensurmaßnahmen abrechnet. Während er mit Yahalom visuell flirtet, was ebenfalls an einen Tanz erinnert, streitet er mit ihr. Nur Fibak spielt diese junge Frau, die vielleicht nur das Beste will und sich für den Regisseur aus der Stadt hübsch macht. Ein sinnloses Unterfangen; sie wird ihn nicht retten können, eher ihre jüngere Schwester (Lidor Ederi), die wie eine gute Fee am Ende den verzweifelten Kerl beruhigt. Avshalom Pollak spielt X als melancholischen Helden, der äußerlich verletzlich wirkt. Doch nur in den Videotelefonaten mit der kranken Mutter wird der Zyniker sanft. Ansonsten demonstriert er Wut und Enttäuschung, den Furor seines gerechten Zorns. „Der Verlust der Seele dieses Landes und seine Verrohung …“, damit verdeutlicht er seine eigene Position: Hoffnungslosigkeit und Hassliebe gegenüber Israel, die Abscheu gegen sich selbst und seine Unfähigkeit, irgendetwas zu ändern. Vielleicht ist der Film ein Hilferuf, sicherlich aber der Versuch einer Katharsis, als ob Nadav Lapid alles auf einmal rausgelassen hätte, was ihm auf der Seele liegt – als eine Art cineastischer Heilungsversuch.

 

Gaby Sikorski