Axiom

Ein Mann, der lügt. Nicht nur manchmal, sondern fast immer, nicht um Menschen zu betrügen, sondern um sich zu profilieren. Eine seltsame, befremdliche Figur steht im Mittelpunkt von Jöns Jönssons Charakterstudie „Axiom“, der das Kunststück fertigbringt ein fast zweistündiger Film ohne unmittelbares Ziel oder gar Katharsis zu sein, aber dennoch jeden Moment zu faszinieren.

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Deutschland 2021
Regie & Buch: Jöns Jönsson
Darsteller: Moritz von Treuenfels, Ricarda Seifried, Thomas Schubert, Zejhun Demirov, Sebastian Klein, Leo Meier, Ines Marie Westernströer
Länge: 113 Minuten
Verleih: Filmperlen
Kinostart: 30. Juni 2022

FILMKRITIK:

Es beginnt ganz unscheinbar. In einem Museum arbeitet Julius (Moritz von Treuenfels) als Aufsicht, im Pausenraum lernt er den neuen Kollegen Erik (Thomas Schubert) kennen, lädt ihn zu einem Bootstrip am Wochenende ein. Auf dem Heimweg sieht man Julius im Bus, er hört anderen Fahrgästen zu, schaltet sich am Ende in die Unterhaltung ein, erzählt eine Geschichte, die nicht unglaubwürdig ist.

Später, am Wochenende, trifft Julius die Anderen – Freunde mag man sie kaum nennen – , hat ihnen offenbar nichts davon erzählt, dass Erik mitkommt. Kurz Irritation, aber die Anderen scheinen solche Aktionen von Julius gewohnt zu sein. Als er feststellt, dass die anderen keine Rettungswesten dabei haben, explodiert Julius förmlich, doch am Steg soll es einen Shop gehen, das Problem scheint gelöst. Durch den Wald geht es zum See, an dem eigentlich ein Parkplatz liegt, an dem man aber nicht direkt parken konnte, sagte zumindest Julius. Alles scheint harmlos, doch eine seltsame Irritation liegt in der Luft, manchmal, wenn die Kamera bei Julius bleibt, er fern der Anderen steht, scheinen diese über ihn zu reden.

Dann, im Bootsladen, hat Julius plötzlich einen Anfall, geschockt rufen die Anderen den Krankenwagen. Im Krankenhaus wird Epilepsie vermutet, Julius Mutter holt ihn ab, brüsk verabschiedet er sich von den Anderen, im Auto fragt die Mutter ihren Sohn ob er tatsächlich erzählt habe, dass die Familie ein Boot besitzt.

Einen Aufschneider beschreibt Jöns Jönsson in seinem zweiten Spielfilm „Axiom“, der in diesem Jahr in der Encounters-Sektion der Berlinale lief. Wie schon in seinem Debüt „Lamento“ erzählt der aus Schweden stammende Regisseur, der in Berlin Film studierte weniger mittels einer klare Geschichte und einer straffen Dramaturgie, als über Beobachtungen. Nach und nach wird deutlich, wie Julius tickt, wie er lebt und lügt.

Aus den Reaktionen seines Umfelds lässt sich erahnen, wie lange er sein Spiel schon treibt, beim angeblichen Bootstrip war er offenbar von Neulingen umgeben, die ihn noch nicht durchschaut hatten, in seiner Wohngemeinschaft dagegen kennt man ihn und seine Lügen und gebrochenen Versprechen, schneidet ihn soweit es geht.

Ein böser Mensch ist Julius jedoch nicht und erst das macht ihn so faszinierend. Im Umgang mit seiner Freundin Marie (Ricarda Seifried) wirkt er wie ein ganz normaler Mensch, doch spätestens bei einem Essen mit ihren Eltern bricht seine andere Seite durch. Er kann nicht anders, er lügt, erfindet Geschichten, um sich interessanter zu machen als er ist, aber warum? Ein Betrüger ist Julius nicht, er lügt nicht, um materielle Vorteile zu erlangen oder sich zu bereichern.

So unbestimmt wie er begonnen hat endet Jöns Jönssons Film. Einmal mehr ist Julius davongerannt, als er merkt, dass er mit seinen Lügen aufzufliegen droht. Dass das nicht zum ersten Mal passiert ist klar, wie lange er schon auf diese Weise lebt bleibt dagegen ebenso unklar, wie vieles andere. Gerade dieser Mut zum Unbestimmten, der Verzicht, einfache und damit fast zwangsläufig banale Erklärungen für ein so seltsames Verhalten zu geben, machen „Axiom“ zu einem außerordentlichen Film. Ein Film, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet, der einen ebenso ungewöhnlichen, wie faszinierenden Menschen zeigt, ohne zu werten, getrieben allein von großer Neugier.

 

Michael Meyns