Aznavour by Charles

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Privat, nachdenklich, reflexiv. Mal nicht ein Künstlerporträt, in dem Wegbegleiter sich über eine Persönlichkeit äußern und auf einen Sockel heben. „Aznavour by Charles“ ist anders, weil der, um den es geht, vorwiegend hinter der Kamera stand. Schon zu Beginn seiner Karriere als Chansonnier und Schauspieler hat Charles Aznavour Bilder von Reisen, Tourneen und privaten Anlässen festgehalten. Jahrzehnte lang lagen diese Aufnahmen unbeachtet in einer Kiste. Marc di Domenico hat den Schatz gehoben und zu einem poetisch-nostalgischen und von ganz persönlichen Gedanken geprägten Film verdichtet. Nicht nur um den Künstler Aznavour und seine Talente geht es da, sondern mehr noch um den Menschen und seine Empfindungen.

Website: www.arsenalfilm.de

OT: Le Regard de Charles
Frankreich 2019
Regie: Marc di Domenico, Charles Aznavour
Mit: Romain Duris (Erzähler/Sprecher), Charles Aznavour, Edith Piaf, Lino Ventura (Archivaufnahmen)
Länge: 83 Minuten
Verleih: Arsenal Filmverleih
Kinostart: 17.6.2021

FILMKRITIK:

40 Stunden Rohmaterial hat Marc di Domenico, der mit dem im Oktober 2018 im Alter von 94 Jahren verstorbenen Aznavour auch privat befreundet war, gesichtet und digitalisiert – mit dem Segen des Künstlers und seiner Familie. Es sind Aufnahmen, die der junge Liedermacher mit armenischen Wurzeln in den Jahren 1948 bis 1982 mit einer Schmalfilmkamera – einer Paillard-Bolex, die ihm von Édith Piaf geschenkt worden sein soll - gedreht hat. Aznavour hat mit ihr Reiseimpressionen festgehalten, Lebensabschnitte memoriert, Freunde und Familie gefilmt, manchmal einfach auch nur mit ihr experimentiert. Für ihn waren diese Bilder wie Tagebuchaufzeichnungen. Sie suggerieren auch, dass Aznavour einen filmischen Blick und bildästhetischen Anspruch gehabt haben muss.

Ein bisschen kann man sich bei diesem Film tatsächlich fühlen wie bei einer privaten Filmvorführung mit Aznavour als Gastgeber, denn vermeintlich hört man ihn aus dem Off laut über sich, sein Leben, seine Vergangenheit und seine Karriere, die Frauen an seiner Seite, die Geschichte seiner armenischen Heimat und auch über eine familiäre Tragödie sprechen. Die Stimme, die man als Voice-Over hört, ist allerdings die des Schauspielers Romain Duris, der in vertrauensvollem Ton Gedanken und Sätze aus den fünf von Aznavour veröffentlichten Biografien zitiert.

Von Paris und dem Montmartre geht es dabei auch nach Nordafrika, Kanada und New York, wo Aznavour in der Carnegie Hall sein „Formidable“ ganz formidabel zum Besten gibt. Klar, dass auch seine Chansons in dieser privaten Revue nicht fehlen dürfen. – rund zwei Dutzend werden angespielt. Dies jedoch so, ohne dass die Musik die Memoiren überfrachten würde. Hier hat sich di Domenico bei Aufnahmen aus Archiven bedient. Dass Aznavour auf seinem eigenen Filmmaterial hie und da vor der Kamera zu sehen ist, ist leicht erklärt: er hat ganz einfach seinen Begleitern die Kamera in die Hand gedrückt. Édith Piaf und Lino Ventura, mit dem er 1960 in „Taxi nach Toubruk“ vor der Kamera stand, kommen auf diese Weise kurz ins Bild und erzählen von ereignisreichen Tagen im Leben des Künstlers, dessen Crooner-Qualitäten oft mit denen Frank Sinatras verglichen wurde.

Ein Trumpf dieses ungewöhnlichen Dokuments ist, dass hier mit authentischem, nicht vordergründig inszeniertem Material gearbeitet werden konnte und Aznavour durch die Stimme Duris‘ freimütig und offenherzig über sein Innenleben spricht. Weniger um große Erfolge und eine Lebensbilanz geht es da, sondern um das Staunen, wie sich die Dinge gefügt haben; zur Sprache kommt aber auch, dass in seinem Leben der Kampf gegen Klassenzugehörigkeiten, Verluste und gegen Rassismus eine Rolle spielten. Ganz nebenbei wird so auch ein Bild der Gesellschaft insbesondere eben der Jahrzehnte, in denen Aznavours Karriere boomte, gezeichnet. Indem er seine Schmalfilmkamera in die Hand nahm, stellte er immer auch zur Schau, dass er zeitlebens ein neugieriger und weltoffener Mensch gewesen ist. Selbst wer ihn als Chansonnier und Schauspieler kannte, wird mit diesen Filmdokumenten neue Facetten seiner Persönlichkeit entdecken.

Thomas Volkmann