Billie – Legende des Jazz

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James Erskines Film über Billie Holiday ist ein Kinoerlebnis für alle Sinne. Das Leben der Jazz-Ikone und ihre Musik steht dabei im Vordergrund; als Grundlage dienen bisher unbekannte Interviews aus den 70er Jahren, in denen viele Jazzgrößen zu Wort kommen.
Anhand von Originalaufnahmen und kolorierten Bildern sowie mit vielen alten Fotos und nicht zuletzt mit hervorragend rekonstruierten Tondokumenten gelingt es James Erskine, Billie Holiday, ihre Zeit und ihr musikalisches Schaffen wieder zum Leben zu erwecken. Doch James Erskine geht noch weiter: Er zeigt die Tragik ihres Lebens ebenso wie Billie Holidays Kampf gegen den Rassismus und spannt den Bogen bis heute.

Website: https://prokino.de

Dokumentarfilm
Großbritannien 2019
Drehbuch und Regie: James Erskine
mit: Billie Holiday, Linda Lipnack Kuehl, Count Basie, Tony Bennett, Jimmy Fletcher, Bobby Tucker, Jimmy Rowles, Sylvia Syms
Länge: 97 Minuten
Verleih: Prokino, Vertrieb: Studiocanal
Kinostart: 11.11.2021

FILMKRITIK:

Billie Holidays kurzes Leben ist von Anfang an ein erschreckendes Beispiel für die Verhältnisse in den USA zu einer Zeit, in der die schwarze Bevölkerung ganz offen unterdrückt und diskriminiert wird. Später kann sie kaum darüber sprechen. Aber sie kann singen – und wie! Einige ihrer Songs, die meisten werden im Film dankenswerterweise ausgespielt, werden nicht nur zu Hits, sondern zu unsterblichen Erinnerungen an eine Sängerin, die mit ihrem Sound und mit ihrer Stimme die Musiklandschaft der USA veränderte, aber auch das politische Leben mit beeinflusste. Billie Holiday, als Eleanora Fagan 1915 in Philadelphia geboren, wächst in einer Umgebung auf, die von Gewalt, Prostitution und Rassismus geprägt ist. Mit 13 geht sie mit ihrer Mutter nach New York und wird entdeckt, als sie in einem Club in Harlem singt. Sie wird die erste schwarze Frau, die mit einem weißen Orchester tourt – eine relativ kurze Episode, denn Billie Holiday wird in den Südstaaten mit rassistischen Beleidigungen konfrontiert, so dass sie die Tournee abbricht. Getrennte Hotels und Restaurants für Schwarze und Weiße sind hier noch selbstverständlich, doch es regt sich immer mehr Widerstand, und so wird Billie Holiday zum Symbol für die schwarze Emanzipationsbewegung. Ihr Lied „Strange Fruit“ setzt dafür ein starkes Zeichen. Man nennt sie Lady Day, und mit dem Ruhm kommen neue Probleme, und die alten bleiben. Sie hat komplizierte Liebesbeziehungen mit Frauen und Männern, darunter sind Hollywoodstars wie Tallulah Bankhead oder Orson Welles. Ihr Drogen- und Alkoholkonsum ist enorm. Sie wird verhaftet und geht wegen Drogenbesitzes ins Gefängnis. Danach folgen noch einige triumphale Konzertauftritte, ihre Biografie „Lady Sings the Blues“ erscheint, und sie lässt weitere Alben aufnehmen. 1959 stirbt Billie Holiday mit 44 Jahren.

Der Filmemacher James Erskine (u. a. „Battle of the Sexes“, 2013) hatte das Glück, mehr als 200 Stunden Tonmaterial für eine geplante Billie Holiday-Biografie verwenden zu können, das aus den 70er Jahren stammte, und zwar aus dem Nachlass der Journalistin Linda Lipnack Kuehl, die überraschend während der Recherchen verstarb. Erst nach beinahe 40 Jahren wurden die Kassetten und Tonbänder wiederentdeckt. Jazzgrößen wie Count Basie oder Bobby Tucker sprechen darauf über Billie Holiday, ihr Leben und ihre Musik. Aber es kommen auch Personen zu Wort, deren Statements eher ungewöhnlich sind, so ein Zuhälter, ihr Anwalt und eine ihrer Gefängniswärterinnen sowie ein Psychiater. In Kombination mit ebenfalls sorgsam aufbereitetem Filmmaterial und zusätzlich gedrehtem Bildern gelingt es Erskine, die Zeit und die Atmosphäre der 30er bis 50er Jahre in den USA auf die Leinwand zu holen. Zusätzliche Aufnahmen zeigen oft Gläser und halb gefüllte Aschbecher, aber auch Plattenspieler, Kassettenrecorder und Tonbandgeräte in Betrieb. Sie sorgen für eine sanft melancholische Stimmung, die über dem gesamten Film liegt.

Linda Lipnack-Kuehl spielt ebenfalls eine Rolle, denn es geht nicht nur um Billie Holiday, sondern auch um ihre Biographin und ihre Besessenheit bei der Recherche nach dem Leben und Wirken der Sängerin. Dass James Erskine dabei ein wenig übers Ziel hinausschießt, indem er den Selbstmord der Autorin in Frage stellt und diffuse Verbindungen zur Jazz- und Drogenszene schafft, ist zwar ein bisschen merkwürdig, aber verzeihlich, denn James Erskine bringt einen zusätzlichen Aspekt in seinen Film, der weitaus wichtiger und wesentlicher ist: Er beschreibt eindringlich die Zustände in einem rassistisch geprägten Land, das schwarzen Frauen wenig bis gar keine Chancen bietet. Er thematisiert Billies Vergewaltigung als Kind, dass sie mit 13 als Hure arbeitet und sich später selbst Prostituierte holt. Sie lässt nichts aus, sie raucht, kifft, trinkt, kokst und fixt immer exzessiver. Er holt die Atmosphäre des jazzverrückten New York auf die Leinwand, mit den schwarzen und weißen Künstlerinnen und Künstlern, die für ihre Musik leben und den Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wirklichkeit probieren. Und er zeigt sehr genau, wem Billie Holiday ihren Aufstieg verdankt: nur sich selbst.

James Erskine schafft Verbindungen bei der Frage, warum Billie Holiday in allem extrem war – offenbar war sie eine Vollblutkünstlerin, die nicht nur in ihrer Musik auf der Suche nach radikalen Empfindungen war. Doch vor allem ist es die ungewöhnliche, unverkennbare Stimme von Billie Holiday und sind es ihre unsterblichen Songs, die den Film zu einem unvergleichlichen und sehr bewegenden Erlebnis machen. Ihr ehemaliger Band-Kollege Al Avola sagt im Film: „Ihrer schönen Seele konnte sie nur singend Ausdruck geben.“ Ein Satz, so wahr und so traurig wie ihre Musik.

Gaby Sikorski