Bis wir tot sind oder frei

Zum Vergrößern klicken

Auch in der beschaulichen Schweiz gibt es Missstände, auch in der Schweiz veränderte sich im Zuge der 68er Generation die Gesellschaft, wurde größere Freiheit, mehr Rechte gefordert. In dieser Zeit, ab etwa 1980, spielt Oliver Rihs „Bis wir tot sind oder frei“, der auf dem Filmfest Hamburg seine Weltpremiere erlebte und interessante Einblicke in im Ausland wohl kaum bekannte Aspekte der eidgenössischen Geschichte gibt.

Website: https://port-prince.de

Schweiz/ Deutschland 2019
Regie: Oliver Rihs
Buch: Oliver Keidel, Norbert Maass, Ivan Madeo, Oliver Rihs, Dave Tucker
Darsteller: Marie Leuenberger, Joel Basman, Beat Marti, Jella Haase, Banatole Taubman, Bibiana Beglau
Länge: 118 Minuten
Verleih: Port au Prince Pictures
Kinostart: 31.03.2022

FILMKRITIK:

Als die Anwältin Barbara Hug 2005 starb, gab es Nachrufe in allen Schweizer Medien. Gewürdigt wurde ihr Einsatz im Zürcher Anwaltskollektiv, das sich ab Mitte der 70er Jahre darum bemühte, auch Menschen eine angemessene Verteidigung zu geben, die sich teure Anwälte nicht leisten konnten. Ebenfalls erwähnt wurde Hugs langjährige Verteidigung von Walter Stürm, einem Mann, der das war, was man gerne einen bunten Hund nennt. Um diese beiden Figuren hat Oliver Rihs seinen biographischen, historischen Film „Bis wir frei sind oder tot“ konstruiert, verfranst sich dabei aber bisweilen in den vielfältigen Aspekten der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen.

Als Sohn eines Industriellen war Walter Stürms (Joel Basman) Platz in der Schweizer Gesellschaft an sich vorgegeben. Doch statt dessen wurde Stürm zu einem Kriminellen, der allerdings vor allem mit seinen diversen Ausbrüchen aus Strafanstalten auf sich aufmerksam machte. In diesem Kontext begegnet er auch der ambitionierten Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger), die durch eine fehlgeschlagene Strahlenbehandlung in der Kindheit stark humpelt, nur mit Hilfe einer Krücke gehen kann und ständig Morphiumampullen mit sich trägt, um die Schmerzen erträglich zu halten. Ob dieses Außenseitertum sie zu einer Kämpferin für die Schwachen machte bleibt offen, in Stürm findet sie jedenfalls ein Gegenüber, das sie besonders reizt.

Doch die erotische Anziehung zwischen Anwältin und Mandantin bleibt einer von vielen Aspekten, die mehr angedeutet als ausgespielt werden. So wie auch die Rolle der linken Szene in der Schweiz, die für Frauenrechte und gegen die Strafjustiz protestiert. In diesem Kontext feierte Rug ihre größten beruflichen Erfolge, verteidigte Stürm auch während dieser in den Hungerstreik ging, um gegen Isolationshaft zu protestieren, gibt ihm eine Stimme, die hilft, ihn in der Schweiz zu einer Art Robin Hood-Figur zu machen.

Über allem schwebt jedoch die Frage nach der Freiheit, die sowohl Hug als auch Stürm suchen, ohne Recht zu wissen, was genau Freiheit ist und schon gar nicht, wie das Gegenüber sie definiert. Wenn da Stürm nach immer wieder erfolgreichen Ausbrüchen, immer wieder, teils haarsträubende Straftaten begeht, um erneut eingebuchtet zu werden, scheint der Film anzudeuten, dass er von einer gewissen Lebensmüdigkeit angetrieben wird. Mehrere Suizidversuche hatte er schon hinter sich, hatte vielleicht sogar versucht, bei einer Verhaftung seinen Tod durch erschießen zu provozieren.

Was in Stürm, aber auch in Hug wirklich vorging bleibt auch nach den zwei Stunden von „Bis wir tot sind oder frei“ offen. Oliver Rihs, in Deutschland vor allem für seinen Berlin-Film „Schwarze Schafe“ bekannt, inszeniert die Doppel-Biographie als Porträt zweier Menschen, die aus dem Raster der bürgerlich-konservativen Schweiz fallen und gerade deswegen die Geschichte ihres Landes einschneidend verändert haben.

Michael Meyns