Das kostbarste aller Güter

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Eigentlich ist Michel Hazanavicius eher für das Komödiantische bekannt – für seinen Erfolgsfilm „The Artist“ oder das Remake „Final Cut of the Dead“. Aber bisweilen versucht er sich am Ernsthaften. Dabei wollte der jüdische Hazanavicius niemals eine Geschichte über den Holocaust machen, aber dann las er Jean-Claude Grumbergs Jugendbuch „Das kostbarste aller Güter“ und ein Film begann sich vor seinem geistigen Auge zu entwickeln. Aber nicht irgendeiner. Ein Zeichentrickfilm.

Website: https://www.studiocanal.de/

La plus précieuse des marchandises
Frankreich / Belgien 2024
Regie: Michel Hazanavicius
Buch: Michel Hazanavicius
Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Grégory Gadebois, Dominique Blanc
Länge: 81 Minuten
Verleih: StudioCanal
Kinostart: 6. März 2025

FILMKRITIK:

Die Kriegsjahre, irgendwo in Polen, nahe Auschwitz. Eine arme Holzfällerfrau stapft durch den Schnee und sieht einen der Güterzüge, die Menschen transportieren. Sie hofft auf etwas, das ihr tristes, freudloses Leben verschönen könnte. Ein Mann im Zug trifft die Entscheidung, dass seine Baby-Tochter mehr Chancen hat, wenn er sie aus dem Zug wirft. Die Holzfällerfrau findet das Baby und nimmt es mit nach Hause, sehr zum Verdruss ihres Mannes, denn der alte Holzfäller glaubt die Nazi-Propaganda von den herzlosen Juden. Er nimmt sie sogar wörtlich, weswegen sein Weltbild umso mehr erschüttert wird, als er den Herzschlag des kleinen Mädchens fühlt. Das Leben ist hart, ein Maul mehr zu stopfen, eine Herausforderung, aber der Krieg hat noch andere Gefahren. Willfährige Henkersknechte der Besatzer, die den alten Holzfäller zwingen, eine Entscheidung zu treffen.

Hazanavicius setzt auf klassischen Zeichentrick. Sein Film ist von unheimlicher Schönheit, er strahlt eine märchenhafte Atmosphäre aus, die den ebensolchen erzählerischen Ton des Romans aufgreift. Im Original ist Jean-Louis Trintignant der Erzähler, der das Märchenhafte noch akzentuiert, gerade auch mit dem Epilog, der der Frage nachgeht, ob geschehen ist, was man gerade gesehen hat, oder ob es nur eine schöne Vorstellung ist.

Der Film schafft es, der Unmenschlichkeit des Holocausts die absolute Menschlichkeit der Holzfällerfrau gegenüberzustellen. Er zeigt das Schlechteste und das Beste der Menschheit und lässt das auf das Publikum wirken. Die Szenen im Konzentrationslager beschwören die schrecklichen Bilder herauf, die jeder im Kopf hat, nur dass sie in Form des Zeichentricks noch überwältigender wirken. Es wird eine Hyperrealität geschaffen, der sich keiner entziehen kann.

„Das kostbarste aller Güter“ erzählt von einfachen Menschen, die leicht zu beeinflussen sind. Von einem tief verwurzelten Antisemitismus, der auch vor der Unschuld eines Kindes nicht Halt macht, und dadurch umso eindrucksvoller den Irrsinn dieses Hasses illustriert. „Die Herzlosen haben ein Herz“, brüllt der alte Holzfäller, als er mit seinen antisemitischen Freunden zusammensitzt. Ein Gefühlsausbruch, der seiner Liebe für das Kind geschuldet ist, aber auch einer, der das Schicksal herausfordert. Denn der alte Holzfäller verhält sich nicht mehr, wie die anderen es erwarten, und erregt dadurch deren Misstrauen. Fast nebenbei erzählt Hazanavicius davon, wie Menschen sich ändern können, während andere ihren Vorurteilen treu bleiben. Und er erzählt davon, dass der Krieg jeden einholt, egal, wie wenig man glaubt, damit zu tun zu haben, oder wie weit ab vom Schuss man sich befindet. Der Krieg verschlingt alles, eine Erkenntnis, die umso schmerzhafter ist, je schöner der Film aussieht. „Das kostbarste aller Güter“ ist einem Märchen gleich, und doch mehr als das. Ein Film, der mit den Mechanismen des Märchens spielt, ein Happyend verspricht, und doch nur bedingt eines liefern kann. Weil das Leben inmitten des Chaos Abzweigungen nimmt, von denen es kein Zurück gibt.

Peter Osteried