Das Licht, aus dem die Träume sind

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Wunderbar schwungvoll und gleichzeitig poetisch präsentiert sich eine liebenswerte Dramödie aus Indien: Ein Junge entdeckt seine große Liebe … das Kino, und er kommt nicht mehr davon los.
Hier können (nicht nur!) Filmfans so richtig schwelgen: Diese Hymne an das Kino und den Film verbindet eine feinsinnige Geschichte mit authentischen Bildern vom Alltag in der indischen Provinz; zusätzlich gibt‘s für die Connaisseure jede Menge Filmzitate. Aber um den Film aus vollem Herzen genießen können, ist kein Expertenwissen notwendig. Das Thema – Kino und Film als Lebensinhalt und als Möglichkeit, hin und wieder der schnöden Realität zu entkommen – ist ebenso spannend wie ergreifend. Also insgesamt feinstes Cineastenfutter und ein Film, den der Verleih selbst ganz großartig als „Cinephilgood-Drama“ bezeichnet.

Homepage: www.neuevisionen.de

Indien/Frankreich 2021
Buch und Regie: Pan Nalin
Kamera: Swapnil S. Sonawane
Darsteller: Bhavin Rabari, Bhavesh Shrimali, Rahul Koli, Richa Meena, Dipen Raval, Paresh Mehta, Vikas Bata
Musik: Cyril Morin

110 min.
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 12. Mai 2022

FILMKRITIK:

Samay lebt mit seinen Eltern und der kleinen Schwester mitten in der indischen Provinz. Außer einer Bahnstation, die das abgelegene Nest mit der Außenwelt verbindet, gibt es praktisch nichts Besonderes in dem kleinen Dorf. Der Alltag ist hart für Samays Familie, die in großer Armut lebt. So kommt es für Samay überraschend, als der strenge Vater eines Tages verkündet, sie würden in die Stadt fahren und ins Kino gehen – es soll das erste und einzige Mal für Samay werden, dass er einen Film sieht. Kino und Film widersprechen nämlich Begriffen der Reinheit, denen sie sich als Brahmanen aus religiösen Gründen verpflichtet fühlen.

Der Besuch des Kinos wird für Samay zu einer Erfahrung, die sein Leben komplett verändert. Er ist vollkommen fasziniert von den neuen Welten, die sich für ihn öffnen. Von nun an hat er einen Lebensinhalt gefunden, und zwar im Komplettpaket. Er will Filme sehen, Filme machen und Filme zeigen. Samay freundet sich mit dem Kinovorführer an, wobei ihm die Kochkünste seiner Mutter behilflich sind, und lernt auf diese Weise den Vorführraum des Galaxy-Kinos von innen kennen. Endlich kann er so viele Filme sehen, wie er will – dafür wird dann eben die Schule geschwänzt. Er experimentiert mit Licht, probiert verschiedene selbstgebaute Apparaturen aus, und es dauert nicht lange, bis Samay auch seine kleine Schwester und seine Freunde mit dem Kinovirus infiziert hat. Doch seine neue Leidenschaft bleibt nicht lange verborgen, und zusätzlich zu den Problemen mit dem Vater und in der Schule drohen weitere Gefahren.

Nach seinem feministischen Musicalmelodram 7 GÖTTINNEN (2015) hat Pan Nalin nun einen eher leichten, durchgängig beschwingten Film gedreht, der eine nicht nur eine angenehme Stimmung schafft, sondern auch eine realistische Geschichte erzählt, die immer mal wieder mit kleinen fantastischen Einsprengseln und einer feinen Poetik überrascht. Samay ist dabei offensichtlich als Alter Ego von Pan Nalin selbst zu verstehen. Auch Nalins Vater war ein Teeverkäufer am Bahnhof, und seine Mutter konnte tatsächlich sehr gut kochen. Der Film spielt zudem in Pan Nalins Heimatdistrikt: Gujarat ist die westlichste Provinz Indiens, eine relativ dünn besiedelte Region mit einer eigenen Sprache und einer beeindruckenden Landschaft. So ist der Film nicht nur als generelle Liebeserklärung an das Kino zu verstehen, sondern auch als ganz persönliches Bekenntnis eines sympathischen und heimatbewussten Filmverrückten, der in Samay seine Entsprechung findet. Der Junge lernt natürlich noch. So sind seine Versuche, das Licht festzuhalten und zu bündeln, um selbst Filme zu machen und zu zeigen, zunächst einmal nur Experimente. Aber Samay erweist sich nicht nur als sehr findig, sondern auch als durchaus erfolgreich. Zudem steckt er mit seiner Begeisterung viele andere an, zunächst einmal seine Freunde, die sich gern von ihm mitreißen lassen. Bhavin Rabari spielt sehr sympathisch den erfinderischen Samay, der nicht langsam gehen kann und entweder stillsitzt oder rennt. Mit dem Filmvorführer Fazal verbindet ihn vor allem die Liebe zum Film und zur Technik – da treffen sich zwei Seelen im Geiste. Es gibt herrliche Szenen mit den beiden: wenn Fazal erklärt, wie ein Projektor funktioniert oder wenn Samay mit der Klebepresse hantieren darf. Dabei erhält der Vorführraum durch die flackernden Lichter und das Brummen der Maschinen eine sehr eigene, faszinierende Atmosphäre. Doch wunderschön sind auch die Naturaufnahmen – so das Bild von Samay und seinen Freunden, die vor einem Rudel Löwen liegen und darauf gewettet haben, welche der Katzen zuerst aufsteht. Eine ganz besondere ästhetische Qualität haben die Szenen mit Samays Mutter (Richa Meena), in denen sie nach traditioneller Art Speisen zubereitet. Sie geht dabei mit sehr viel Liebe und Sorgfalt ans Werk, so dass es kein Wunder ist, wenn Fazal von ihren Kochkünsten begeistert ist. Doch es ist auch Richa Meena selbst, die hier als ruhige und gelassene Mutter überzeugt, eine Frau, die sich keinesfalls dem Diktat ihres aufbrausenden Mannes ergibt. Dipen Raval spielt diesen eigentlich bemitleidenswerten Kerl, dem das Leben übel mitgespielt hat und der seinem Sohn gegenüber den strengen Vater herauskehrt. Zusätzlich muss sich Samay vielen Konflikten stellen, von denen der Ärger mit dem Vater beinahe der kleinste ist. Die Umstellung auf die digitale Filmprojektion spielt ebenfalls eine Rolle und wird mit leiser, humorvoller Wehmut thematisiert. Das Kino wird bleiben, so lautet die optimistische Botschaft, und mit seinen zahllosen, ganz unterschiedlichen Filmen weiterhin die Herzen der Menschen erobern.

Gaby Sikorski