Der menschliche Faktor

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Thriller, Familiendrama und Zeitgeistkritik – die Geschichte einer sich selbst zerstörenden Familie handelt von der Unfähigkeit zur Kommunikation und generell vom Umgang mit Menschen, die man eigentlich lieben sollte. Anlässlich eines Wochenendausflugs treten durch ein Ereignis von außen die Probleme im Inneren offen zutage. Manches erinnert hier inhaltlich an den Arthouse-Erfolg HÖHERE GEWALT (Buch und Regie: Ruben Östlund, 2014), wobei Ronnie Trocker sowohl inhaltlich als auch visuell einen eigenen Weg geht, der sich konventionellen Sehgewohnheiten verweigert.

Website: http://farbfilm-verleih.de/filme/der-menschliche-faktor/

Deutschland 2021
Buch und Regie: Ronnie Trocker
Darsteller: Mark Waschke, Sabine Timoteo, Wanja Valentin Kube, Jule Hermann, Hannes Perkmann
Kamera: Klemens Hufnagl
Länge: 102 Minuten
Verleih: farbfilm verleih
Kinostart: 31.03.2022

FILMKRITIK:

Jan, Nina, Emma und Max bilden eine Kleinfamilie, die in Wohlstand lebt und nur auf den ersten Blick Harmonie ausstrahlt. Jan und Nina sind nicht nur privat ein Paar, sie arbeiten auch zusammen und leiten gemeinsam eine Werbeagentur. Die ältere Tochter Emma ist vollauf mit ihrer Pubertät beschäftigt und zeigt dabei die üblichen Symptome. Ihr jüngerer Bruder Max beschäftigt sich am liebsten mit seiner Ratte Zorro. Als die Familie an die belgische Küste fährt, um sich übers Wochenende zu entspannen, gibt es gleich nach der Ankunft einen Zwischenfall: Jan will gerade von seinen Einkäufen in das Haus zurückkehren, als er Türenschlagen und Ninas Schreie hört. Offenbar sind Einbrecher in das Haus eingedrungen und haben die Flucht ergriffen, als sie bemerkten, dass jemand da war. Bei der Polizei finden die Vier keine große Unterstützung. Und so einfach, wie sie aussieht, ist die Sache nicht, denn alle Anwesenden haben den Zwischenfall anders erlebt. Max unterstellt seinem Vater sogar, er habe sich draußen versteckt und nichts getan, um ihnen zu helfen. Die Diskussionen und die unterschiedlichen Sichtweisen der Familienmitglieder bewirken jedenfalls, dass die Brüche und Differenzen zwischen ihnen offen zutage treten. Dies gilt für allem für Jans und Ninas Partnerschaft – sowohl privat als auch beruflich. Der Auftrag einer populistischen Partei, den Jan unbedingt annehmen will, sorgt zusätzlich für Zündstoff zwischen den beiden.

Ronnie Trocker experimentiert in mehrfacher Hinsicht, visuell und erzählerisch. Eine nicht lineare Erzählweise mit Vor- und Rückblenden verstärkt den Eindruck einer inneren und äußeren Bedrohung. Er nimmt die Ausgangssituation – den Einbruch – und verknüpft sie mit den einzelnen Familienmitgliedern, zu denen auch Zorro, die Ratte, zählt. Es gibt also fünf unterschiedliche Darstellungen eines prinzipiell gleichen Ablaufs. Das klingt und ist anspruchsvoll, denn es bedeutet letztlich auch, dass es unvermeidbare Wiederholungen gibt, auch wenn die Ereignisse von den einzelnen Akteuren unterschiedlich betrachtet und eingeordnet werden. Um weitere Wiederholungen zu vermeiden und vielleicht auch, um die eigentlich recht einfache Geschichte aufzuwerten, arbeitet Ronnie Trocker zusätzlich mit Vor- und Rückblenden. Er springt in der Chronologie hin und her, wechselt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so dass es zur Aufgabe des Publikums wird, zu entscheiden, wo sich die einzelnen Szenen einordnen lassen. Als Anhaltspunkt dafür dient der entscheidende Auslöser: der Einbruch. Alles, was geschieht, passiert entweder davor, danach oder gleichzeitig. Das ist ein interessantes, ambitioniertes Vorhaben, das über weite Strecken auch funktioniert. Darüber hinaus sorgt Trocker mit einer extrem ideenreichen Kameraarbeit (Bildgestaltung: Klemens Hufnagl) für visuelle Reize, die sich allein durch die Geschichte nicht erklären lassen und daher manchmal verpuffen. Die bewegliche Handkamera der Eingangssequenz lässt Schönes hoffen – die Kamera kriecht in alle Ecken des Hauses, sie blickt durch Türen, Gänge und Zimmer, als wolle sie die Intimität der Bewohner absichtlich verletzen. Im Verlauf wechselt Ronnie Trocker dann recht häufig seine medialen Mittel, ohne dass es dafür plausible Erklärungen gäbe. Auch die Genrezuweisung ist problematisch. Für einen Thriller ist die Bedrohung nicht durchgängig und nicht stark genug.

Manchmal scheint es, als ob sich der Autor im Dschungel seiner „Red Harrings“, also beim Legen von falschen Fährten, verirrt hat und dann lieber das Thema wechselt. Der Grundgedanke – ein Vater, der möglicherweise unfähig ist, seine Familie zu beschützen –, der in Ruben Östlunds HÖHERE GEWALT das Geschehen bestimmt, wird hier weniger klar. Doch ist es auch hier die Frau, die Entscheidungen trifft: Nina, gespielt von Sabine Timoteo, hält nichts von intensiver Kommunikation mit ihrem Mann, für die es vielleicht auch zu spät ist. Mark Waschke als Jan ist ein Mann ohne Geheimnisse. Er tut, was er kann, und das ist nicht viel. Dabei merkt er nicht, dass er sich immer mehr von Nina entfernt. Jule Hermann als Tochter Emma überzeugt schauspielerisch ebenso wie Wanja Valentin Kube als Max, der vielleicht über seinen Kumpel Zorro die Lösung des Falls kennt.

Gaby Sikorski