Der Zeuge

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Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs begannen Prozesse gegen die Nazi-Täter, bisweilen durchgeführt in Kellerräumen, unter improvisierten Umständen, Einen solchen Prozess nimmt der Schauspieler Bernd Michael Lade als Ausgangspunkt für seinen Film „Der Zeuge“, eine Mischung aus Dokudrama und Gerichtsfilm, der in seinen besten Momenten komplexe Fragen nach Schuld, Tätern und Opfern aufwirft.

Deutschland 2022
Regie & Buch: Bernd Michael Lade
Darsteller: Bernd Michael Lade, Maria Simon, Lina Wendel, Torsten Spohn, Thomas Schuch, Jörg Seyer

Länge: 93 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 2. März 2023

FILMKRITIK:

Elf Jahre verbrachte der Schweizer Carl Schrade in deutschen Konzentrationslagern, von 1934 bis 1945 war er in den Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nacheinander in Lichtenburg, Esterwegen, Sachsenhausen, Buchenwald inhaftiert und von 1939 bis 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg unweit der heutigen deutschen Grenze zu Tschechien.

Dort wurde Schrade Oberkapo im Krankenrevier, eine Funktion, die sein Überleben erklärt. Nach dem Krieg verließ Schrade Deutschland und starb 1974 in seiner Schweizer Heimat. Erst Jahre nach Schrades Tod wurde im Nachlass eines Mithäftlings ein Manuskript mit Erinnerungen entdeckt, das 2011 zunächst in Frankreich erschien und kurz danach auch in Deutschland. „Elf Jahre – Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern“ beschreibt den ungewöhnlichen Lebensweg eines Menschen, der als sogenannter Berufsverbrecher von den Nationalsozialisten inhaftiert wurde und durch diese besondere Position gleichermaßen Täter wie Opfer war.

Im Gegensatz zu vielen anderen Kapos, die ihre Position ausnutzen und bei den Mitgefangenen gefürchtet waren, scheint Schrade sich gerade in den letzten Jahren des Krieges für seine Mitgefangenen eingesetzt zu haben und nicht wenig zum Überleben von zumindest Einigen beigetragen zu haben.

Eine faszinierende, komplexe, auch ambivalente Persönlichkeit, die der deutsche Schauspieler Bernd Michael Lade vor einigen Jahren entdeckt hat und nun in den Mittelpunkt seines Spielfilms „Der Zeuge“ stellt. Leider verzichtet Lade jedoch auf jegliche Kontextualisierung, weder zu Beginn noch am Ende des Films werden Informationen über das wann und wo vermittelt, auch die Rolle Schrades als Zeuge in dem Prozess, den man 90 Minuten lang verfolgt, bleibt unklar, selbst dessen Ausgang bleibt offen.

Fast ausschließlich die Zeugenaussage Schrades ist zu hören, was Lades Film zu einer Art Dokudrama macht, das seine sehr beschränkten Mittel nicht verhehlen kann. Lade selbst spielt Schrade, um ihn herum amerikanische Richter – man befindet sich in Bayern, also in der amerikanischen Besatzungszone – auf der Anklagebank ein gutes Dutzend angeklagte SS-Männer und auch eine Frau, Ilse Koch, die berühmt-berüchtigte „Bestie von Buchenwald“, dazu zwei Übersetzerinnen, die jedes von Schrade auf englisch gesprochenes Wort ins Deutsche übersetzen. Nicht die einzige stilistische Entscheidung, die „Der Zeuge“ zu einem mehr als trockenen Film werden lässt, auch die schier endlose Folge an Nah- und Halb-Nahen Einstellungen lässt eine gewisse Monotonie entstehen, die angesichts des Themas umso bedauerlicher erscheint.

Nüchtern beschreibt Schrade die Taten der SS-Leute, klagt an, ist wertvoller Zeuge, auch wenn er selbst als Berufsverbrecher inhaftiert war und zumindest vorher gewiss kein unbescholtenes Blatt gewesen ist. Kein Vergleich jedoch zu den Verbrechen der Nazis, die nach dem Krieg jedoch bekanntermaßen meist straffrei ausgingen. Angesichts der Nüchternheit des Films, der wie ein 90minutenlanges Protokoll des Graues wirkt, mag man an Peter Weiss legendäres Stück „Die Ermittlung“ denken, dass den Ersten Auschwitzprozess beschreibt. Eine ähnlich künstlerische Überhöhung gelingt Bernd Michael Lade in „Der Zeuge“ jedoch nicht, sein Film bleibt auf Carl Schrade und seine Aussage reduziert, bleibt ein Dokument, das vor allem Interesse an einem vergessenen Zeugen des Nationalsozialismus weckt.

 

Michael Meyns