Glück auf einer Skala von 1 bis 10

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Ein gehandicapter Hobby-Philosoph und ein gestresster Bestatter erleben einen Roadtrip, den sie als Zufallsbekannte beginnen und als Freunde beenden. Was leicht in Richtung Kitsch driften könnte, gelingt im Fall der französisch-schweizerischen Tragikomödie „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“. Das Autoren-, Schauspiel- und Regie-Duo Bernard Campan und Alexandre Jollien inszeniert ein lebensbejahendes „buddy movie“, das herzlich unterhält.

Website: https://www.x-verleih.de/filme/glueck-auf-einer-skala-von-1-bis-10/

Presque
Frankreich/Schweiz 2021
Regie: Alexandre Jollien, Bernard Campan
Buch: Helene Gremillon, Alexandre Jollien, Bernard Campan
Darsteller: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Tiphaine Daviot, Julie-Anne Roth, La Castou, Marie Benati, Marilyne Canto, Anne-Valerie Payet

Laufzeit: 92 Min.
Verleih: X-Verleih/Warner Bros.
Kinostart: 2. Juni 2022

FILMKRITIK:

„Lass mich los, Maman,“ fordert Igor (Alexandre Jollien) in einer frühen Szene des Films. Der körperlich beeinträchtigte Alleinlebende will unabhängig sein, schließlich kommt er weitgehend ohne Hilfe zurecht. Der Job als Dreirad-Kurier ist ein Schritt in Richtung Selbstbestimmung, was Igor aber noch fehlt, sind mehr Sozialkontakte. Den Stein ins Rollen bringt ein kleiner Unfall mit dem Bestatter Louis (Bernard Campan), der Igor nach dem Zusammenstoß ins Krankenhaus fährt und die Episode abhakt. Nicht so Igor: Der schleicht sich dreist in den Leichenwagen, als Louis eine Verstorbene im Sarg nach Frankreich überführen will. Zähneknirschend nimmt der überrumpelte Louis den hartnäckigen Passagier mit.

Für Igor bietet der Ausflug Gelegenheit, die theoretischen Weisheiten seiner „Papierfreunde“ aus den Philosophie-Büchern, die er ständig zitiert, in die Praxis zu überführen. Der spröde Louis hingegen stürzt sich als Leiter einer Bestattungsfirma in die Arbeit, um eine spät aufgelöste Seelenqual zu verdrängen, und erfährt durch die Begegnung mit dem „erstaunlichen Burschen“ Igor eine bereichernde Irritation seiner Routine. Das erinnert an den 2011er Publikumshit „Ziemlich beste Freunde“ oder den Klassiker „Rain Man“, entwickelt aber eigenen Charme.

Die Entstehung der Freundschaft ist amüsant anzuschauen, teils schwarzhumorig und immer nah bei den sympathischen Figuren. Ein Glücksgriff ist die darstellerische Harmonie zwischen Alexandre Jollien und Bernard Campan („Alles kein Problem“), die als Duo auch für die Regie und – zusammen mit Helene Gremillon – das Drehbuch verantwortlich zeichnen. Die echte Freundschaft der beiden Männer hat das Projekt in vielerlei Hinsicht inspiriert. Dass der Fokus weniger auf einer raffinierten filmischen Gestaltung als auf den Dialogen und zwischenmenschlichen Interaktionen liegt, ist daher leicht verschmerzbar.

Bei allem Feelgood-Faktor behandelt der tragikomische Film auch ernste Themen. Der Originaltitel „Presque“ spielt auf eine Szene an, in der Igor als „fast normal“ bezeichnet wird – und trifft das Herz des Films weit besser als der blumige deutsche Verleihtitel. Der Mann mit Handicap begegnet Vorurteilen und ringt um mehr Unabhängigkeit, was mit einer späten Loslösung von der Mutter einhergeht. Auch das oft beschwiegene Thema Sex mit Behinderung wird mit einer unaufdringlich positiven Botschaft aufgegriffen. Solche Momente und die schauspielerische Chemie prägen den einnehmenden Roadtrip, der ehrlich rührt.

 

Christian Horn