Helden der Wahrscheinlichkeit

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Anders Thomas Jensen und Mads Mikkelsen – das ist seit vielen Jahre ein eingespieltes Team und erzählt Geschichten auf höchstem Niveau. Häufig etwas schwarzhumorig, immer aber auch dramatisch und manchmal als Wanderer zwischen den Genres. Das gilt auch für „Helden der Wahrscheinlichkeit“, in dem ein Mann Rache für den vermeintlichen Unfalltod seiner Frau will. Eine geradlinige Geschichte, aber bei Jensen doch mehr als das. Ein brillant erzählter Rachefilm für den intelligenten Zuschauer, der für jeden etwas bietet.

Website: https://helden-der-wahrscheinlichkeit.de/

Retfærdighedens ryttere
Dänemark 2020
Regie: Anders Thomas Jensen
Buch: Nikolaj Arcel, Anders Thomas Jensen
Darsteller: Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Andrea Heick Gadeberg
Länge: 117 Minuten
Verleih: Splendid
Kinostart: 23.9.2021

FILMKRITIK:

Das Leben ist eine Abfolge von Ereignissen, die einander begünstigen. Dass in Tallin ein Fahrrad bestellt wird, führt in Dänemark zum Diebstahl eines solchen Fahrrads – und ist Auslöser einer Ereigniskette. Denn Mathilde kann nicht mit dem Fahrrad fahren, also fährt ihre Mutter sie. Aber das Auto springt nicht an, also nehmen sie die Bahn. Dort bietet Otto der Frau seinen Sitzplatz an. Wenige Sekunden später kommt es zum verheerenden Unfall, bei dem sie stirbt. Aber Otto, ein Wissenschaftler, der sich auf Wahrscheinlichkeitstheorie festgelegt hat, glaubt nicht an die Zufälligkeit dieser Tragödie. Er glaubt, jemand hat einen Anschlag verübt und tritt mit dieser Theorie an den Witwer, einen Veteranen, heran. Der Beginn eines Rachefeldzugs.

Die Grundidee des Films könnte man vielleicht so beschreiben: Was würde John Wick tun, wenn er seinen Rachefeldzug zusammen mit den Nerds aus „The Big Bang Theory“ durchziehen müsste? Eine mehr als schräge Prämisse, die ganz typisch für Anders Thomas Jensen ist. Seine Geschichten sprühen in der Regel vor schwarzem Humor. Das ist auch hier so. Es ist eine grimmige Geschichte, in der die Mechanismen eines Dramas auf die eines Actionfilms stoßen und das Ganze mit einer Komik unterfüttert ist, die wirklich beißend ist. Bei einem geringeren Autor und Regisseur könnte eine solche Melange schnell scheitern, bei Jensen wird daraus ein wuchtiger Film, der Genre-Grenzen einreißt und praktisch für jeden etwas bietet.

Dabei funktioniert der Film nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene. Der Unterbau ist noch viel faszinierender, denn Jensen und sein Ko-Autor Nikolaj Arcel stellen sich die Frage nach der Kausalität. Es ist das Kernstück der Chaos-Theorie, nach der der Flügelschlag eines Schmetterlings am anderen Ende der Welt der Auslöser für einen Wirbelsturm auf der gegenüberliegenden Seite des Globus sein kann. Hier ist es ein Fahrrad, das bestellt und gestohlen wird. Ohne dieses Ereignis wäre in dem Film nichts so gekommen, wie es ist.

Zugleich befasst er sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung. Zahlen lügen nicht, sagt Nikolaj Lie Kaas‘ Figur, aber ist dem wirklich so? Liegt es nicht an der Interpretation dieser Zahlen, dass man zu dem Ergebnis kommt, das man wünscht? Oder anders gesagt: Wenn man ein Ziel vor Augen hat, dann sucht man nach den Stücken der Beweiskette, die dazu führen. Das ist das wirklich faszinierende Element dieses Films, weil er der Kausalität den Zufall gegenüberstellt.

Es ist menschlich, dass man in Tragödien den Sinn dahinter sucht oder danach strebt, einen Schuldigen zu finden. Auch das ist ein wichtiges Thema von „Helden der Wahrscheinlichkeit“, das Menschen zusammenführt, deren Lebenswege sich sonst nie gekreuzt hätten. Das führt zu einem Moment der Erkenntnis – bei den Protagonisten, aber auch beim Zuschauer –, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass dieses ursächliche Ereignis, der Fahrraddiebstahl, letzten Endes auch zu etwas Gutem geführt hat, das es sonst so nie gegeben hätte, auch wenn entlang des Weges Verluste zu beklagen waren.

Peter Osteried