In den besten Händen

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„Wartezeit 8 – 10 Stunden. Wir danken für Ihr Verständnis.“ Das steht sinngemäß auf einem handgeschriebenen Zettel in der Unfallstation des Pariser Krankenhauses, wo kurz nacheinander die Zeichnerin Raf und der LKW-Fahrer Yann eingeliefert werden. Die beiden sowie Rafs Lebensgefährtin Julie und die engagierte Pflegerin Kim stellen die Hauptpersonen einer Handlung dar, die mit Humor, Temperament und durchaus realistisch von einer Nachtschicht in der Notaufnahme erzählt, dabei wie mit der Lupe auf den Mikrokosmos des Stadtlebens blickt und Missstände aufzeigt, die dringend einer Lösung bedürfen. Nicht nur in Frankreich.

Webseite: https://www.alamodefilm.de/

La Fracture
Frankreich 2021
Regie: Catherine Corsini
Buch: Catherine Corsini, in Zusammenarbeit mit Laurette Polmanss, Agnès Feuvre
Darsteller: Valeria Bruni Tedeschi, Marina Foïs, Pio Marmaï, Aissatou Diallo Sagna
Kamera: Jeanne Lapoirie
Musik: ROB
98 Minuten
Verleih: Alamode
Kinostart: 21. April 2022

FILMKRITIK:

Beinahe gleichzeitig landen der Lkw-Fahrer Yann und die Comiczeichnerin Raf in der Notaufnahme eines Pariser Krankenhauses. Raf ist gerade gestürzt, ein Moment der Unaufmerksamkeit, vielleicht weil sich ihre Lebenspartnerin Julie von ihr getrennt hat. Wahrscheinlich ist ihr rechter Arm gebrochen. Yann hat bei einer Gelbwestendemo eine schwere Beinverletzung durch herumfliegende Metallteile erlitten. Die beiden Patienten trennen Welten, aber es dauert nicht lange, und sie lernen sich kennen. Julie eilt Raf zu Hilfe – Trennung hin, Trennung her –, und das ist auch bitter nötig, denn Raf ist eine extrem schwierige Persönlichkeit, die allein überhaupt nicht zurechtkommt und die ganze Klinik zusammenbrüllt. Mitten im Getümmel von wartenden Kranken, immer mehr verletzten Demoteilnehmern und Angehörigen versucht die Krankenschwester Kim die Ruhe zu bewahren. Das fällt ihr schwer, nicht nur weil sie heute schon ihre sechste Nachtschicht in dieser Woche absolviert – erlaubt sind maximal drei – sondern auch, weil zu Hause ihr krankes Baby liegt. Es wird von Kims Mann versorgt, aber das Fieber steigt und steigt …

Catherine Corsini wählt ein mutiges Format für ihr unterhaltsames Sozialdrama, das beinahe heiter beginnt und dann immer stärker eine ziemlich direkte Anklage der Arbeitsbedingungen im französischen Gesundheitswesen formuliert: Ihr Film kommt einerseits so dicht wie möglich an eine Reportage heran, also an ein dokumentarisches Format – bis dahin, dass in der Hauptrolle der Kim keine Schauspielerin, sondern eine echte Krankenpflegerin zu sehen ist. Andererseits nutzt Corsini die Mittel des Dramas und der Komödie, indem sie Kim nicht in den Mittelpunkt der turbulenten Handlung stellt, sondern versucht, alle vier Hauptpersonen gleichwertig zu fokussieren, ihre Verbindungen untereinander offenzulegen und voranzubringen. Sehr erfreulich ist, dass dabei die Beziehung zwischen Julie und Raf gar nicht weiter thematisiert, sondern als selbstverständlich betrachtet wird. Eine Reihe von Nebenfiguren unterstützt die dokumentarische Wirkung eines Blicks auf den Mikrokosmos des Großstadtlebens mit seinen vielen persönlichen Krisen sowie den kleinen und großen Katastrophen, die in einer einzigen Nacht passieren können. Wer jemals längere Zeit in einem Krankenhaus war, kennt alle diese Menschen: die Gestörten, die den ganzen Laden zusammenschreien, die still vor sich hin Leidenden, die Frau kurz vor der Entbindung, die anspruchsvollen Krakeeler wie Yann und Raf, und überall bleiche Angehörige, die sich Sorgen machen. Dieser realistische Eindruck gelingt vor allem durch den Schnitt und über schnelle Schauplatzwechsel, die manchmal nur ein paar Meter ausmachen, denn im Wesentlichen spielt der Film in der Notaufnahme und in einigen Fluren und Behandlungsräumen. Corsinis geschicktes Vorgehen erlaubt außerdem interessante Tempowechsel, so dass schnelle, manchmal sogar hektische Abläufe mit ruhigeren Passagen wechseln.

Für solche kurzen friedlichen Momente ist allerdings Raf am allerwenigsten zuständig. Valeria Bruni Tedeschi spielt sie als Ganztagshysterikerin, trotzig und aggressiv, im nächsten Moment um Mitleid bettelnd und voll tiefer Reue. In dieser Grenzsituation – mit großen Schmerzen, allein gelassen in einem überfüllten Krankenhaus und zusätzlich noch in einer Beziehungskrise – würden wahrscheinlich auch viele andere austicken. Doch dass Raf eine fürchterliche Drama-Queen ist und vielleicht sogar unter einem Borderline-Syndrom leidet, wird schon früher klar, wenn sie in tiefer Nacht der neben ihr schlummernden Lebenspartnerin eine beleidigende Textnachricht nach der anderen schickt und damit das Ende ihrer Beziehung einleitet. Wie Valeria Bruni Tedeschi diese Nervensäge spielt, so zickig und gemein, dass es kaum auszuhalten ist, zeigt nicht nur großes Talent, sondern auch eine übersprudelnde Spielfreude. Yann, mit dem Raf in der Notaufnahme praktisch sofort aneinanderrasselt, ist ihr dabei ähnlicher, als er es wahrhaben möchte. Pio Marmaï spielt diesen aufrechten Proletarier, für den die Gelbwestendemo nicht nur ein politisches Anliegen ist, sondern auch eine Gelegenheit, mal so richtig die Sau rauszulassen. Kaum ist er im Krankenhaus, hält er Raf ihre großbürgerliche Spießigkeit vor und provoziert sie genauso, wie er bei der Demo die Polizisten provoziert hat, nicht ahnend, dass er bei Raf auf eine Persönlichkeit stößt, die ihm in Temperament und Aggressivität noch überlegen ist. Glücklicherweise kommt Julie bald, um Raf zu trösten und zu unterstützen. Julie ist ruhig, vernünftig und besonnen, also prinzipiell die ideale Ergänzung zu der unberechenbaren und lauten Raf. Marina Foïs gibt der Julie sehr viel Gelassenheit, aber auch ein wenig augenzwinkernden Humor und einen Hauch von Mütterlichkeit. Im Trubel der Notaufnahme wird Julie eine Art Schutzengel, indem sie zwischendurch wartenden Patienten hilft.

Über allen steht wie ein Fels in der Brandung die leitende Krankenschwester Kim, sehr konzentriert und in professioneller Lässigkeit dargestellt von Aissatou Diallo Sagna, die mit heldenhafter Ruhe für alle und jeden da ist und das Chaos um sich zu dirigieren versucht. Dabei gerät auch sie ab und zu an ihre Grenzen und darüber hinaus. Aber die Arbeit in dem schon seit Monaten bestreikten Krankenhaus muss ja irgendwie weitergehen, und Kim schafft es tatsächlich, obwohl sie mit ihren Kräften am Ende ist, so wie auch die Ärzte und die anderen Schwestern. Diese Situation, die durch die Straßenkämpfe vor der Tür immer mehr eskaliert, ließe sich auf jede beliebige deutsche Stadt übertragen. Und so wie in Deutschland ist es auch für Kim in Frankreich absehbar, dass sie das alles nicht mehr lange mitmachen kann. Am Ende gibt es aber doch Hoffnung. Ein Kind wird geboren, und auch in anderer Hinsicht winkt ein Neubeginn, vielleicht sogar für Kim.

 

Gaby Sikorski