In einem Land, das es nicht mehr gibt

Zum Vergrößern klicken

Glanz und Elend eines untergehenden Systems: Der ungewöhnliche Blick zurück – nicht im Zorn, sondern mit trotziger Melancholie – zeigt die Undergroundszene der DDR kurz vor der Wende, als so vieles in Bewegung war und alles möglich schien. Er zeigt aber auch eine noch immer aktive Repressionsmaschinerie. Aelrun Goettes lang erwarteter neuer Spielfilm fängt perfekt den Zeitgeist ein. In der Geschichte von Suzie, die vom angepassten Mädchen zur Rebellin wird, verknüpft sie ihre eigene Autobiographie mit historischen Aspekten und mit dem Lifestyle der End-Achtziger-Jahre. 

Deutschland 2022
Regie und Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, David Schütter, Sabin Tambrea, Claudia Michelsen, Jördis Triebel, Helene Grass, Sven-Eric Bechtolf, Bernd Hölscher
Kamera: Benedict Neuenfels

Musik: Boris Bojadzhiev
Länge: 101 Minuten
Start: 06.10.2022

FILMKRITIK:

Susanne, genannt Suzie – ihre Mutter war Suzie-Quatro-Fan – steht kurz vor dem Abitur. Damit gehört sie zu einer Gruppe von Auserwählten, die in der DDR studieren dürfen, ein Privileg, das nur wenige genießen, was Suzie durchaus bewusst ist. Eines Tages wird sie auf offener Straße von Volkspolizisten kontrolliert. Bei der folgenden Durchsuchung findet sich bei ihr ein verbotenes Buch: „1984“ von George Orwell. Sie hat noch Glück im Unglück, denn sie landet dafür nicht im Gefängnis, wie so viele andere, sondern sie darf sich „in der Produktion bewähren“. Das heißt, sie muss die Oberschule verlassen und wird zwangsweise Lehrling in einem Metallberuf, Fabrikarbeiterin also. Also kein Abitur, kein Literaturstudium, keine Aussicht auf die ersehnte Karriere als Schriftstellerin. Zähneknirschend beginnt Suzie die Ausbildung und leistet schwere körperliche Arbeit in einem harten Job, mit dem sie absolut nichts zu tun hat (und haben will) und bei dem sie zusätzlich von ihren Kolleginnen ständig und mit Argusaugen beobachtet wird. Jeden Morgen muss sie mit der Straßenbahn zu der verhassten Fabrik fahren, in aller Frühe. Dabei wird Suzie, die wehmütig aus dem Fenster schaut, von einem Unbekannten fotografiert und findet wenig später zu ihrer Überraschung ihr Konterfei in der viel gelesenen Zeitschrift „Sybille“ wieder. Daraus entwickelt sich schließlich über mehrere Umwege der Beginn einer Karriere als Model, damals noch Mannequin genannt. Und diese Karriere hat Folgen, nicht nur für ihre Ausbildung: Suzie findet neue Freunde, von denen die meisten zur Underground-Szene der DDR gehören. Es dauert jedoch nicht lange, und die Stasi steht bei Suzie vor der Tür. Sie muss sich entscheiden, auf wessen Seite sie steht.

Aelrun Goette erzählt mit viel Sinn für Zeitkolorit eine Geschichte vom Erwachsenwerden in der Wendezeit. Auch sie wurde zufällig als Model entdeckt und ihre Fotos erschienen in der „Sibylle“, die sie als eine Art Alternativvorschlag zum DDR-Sozialismus darstellt: gleichzeitig Vorzeigebetrieb, Imagefaktor und Inbegriff von Freiheit und Vielfalt, aber immer hübsch staatskonform. Claudia Michelsen spielt mit schöner Ambivalenz die Chefin, vermutlich Redaktionsleitung und Geschäftsführung in einer Person, eine absolute Herrscherin, die dennoch versucht, für ihre Leute das Beste herauszuholen. Im Taktieren mit den real sozialistischen Staatsorganen ist sie praktisch unschlagbar. Aelrun Goettes Alter Ego spielt die junge Marlene Burow, deren blasses Renaissancegesicht mit den ausdrucksvollen, melancholischen Augen den Zeitgeist der späten 80er Jahre widerspiegelt. Aber wenn sie lächelt, geht die Sonne auf. Ihre anfängliche Unsicherheit verschwindet bald und wird durch Selbstbewusstsein und Entschlossenheit ersetzt.

Über ihre Modelkarriere entdeckt Suzie eine unbekannte Welt, die ihr deutlich besser gefällt als die brave, spießige DDR-Wirklichkeit, deren Prinzipien ganz offenkundig gescheitert sind. Ihre Kontakte zum Kultur-Underground, zu alternativen Modeschöpfern, Musikern und anderen Künstlern eröffnen ihr ganz neue Perspektiven. Suzies Freundschaft zu Rudi (Sabin Tambrea), einem Rebellen, der gern Frauenkleider trägt und ihr beibringt, auf High Heels zu gehen, wird für sie bald genauso wichtig wie ihre Beziehung zu Coyote, dem verrufenen Fotografen, der es sich so gern mit allen verdirbt. Aber Suzies wahre Liebe gehört der
DDR-Subkultur, der Aelrun Goette mit diesem Film ein kleines Denkmal setzt.

Gaby Sikorski