Lamb

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Mit einer Debütarbeit gleich für gesteigerte Aufmerksamkeit zu sorgen, gelingt bei weitem nicht jedem Filmemacher. Der Isländer Valdimar Jóhannsson jedoch hat es geschafft. Sein im Sommer 2021 in Cannes uraufgeführtes Mystery-Horror-Drama „Lamb“ fand größere Beachtung, da es eigene Wege beschreitet und geschickt ein diffuses Unbehagen heraufbeschwört. Wenig verwunderlich griff die in New York beheimatete Produktions- und Verleihfirma A24 bei der Vergabe der nordamerikanischen Rechte zu und sicherte sich einen weiteren interessanten Film für ihr mit reizvollen düsteren Genrebeiträgen gespicktes Portfolio. Neben so eigenwilligen Werken wie „Enemy“, „The Witch“, „The Killing of a Sacred Deer“, „Under the Silver Lake“, „Midsommar“ und „Der Leuchtturm“ braucht sich Jóhannssons Erstling keineswegs verstecken, selbst wenn ihm auf den letzten Metern ein wenig die Puste ausgeht.

Website: https://www.centralfilm.de/

Dýrið
Island/Schweden/Polen, 2021
Regisseur: Valdimar Jóhannsson
Drehbuch: Valdimar Jóhansson, Sjón
Darsteller: Noomi Rapace, Hilmir Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson, Ingvar Eggert Sigurðsson, Ester Bibi, Theodór Ingi Ólafsson
Länge: 106 Minuten
Verleih: Koch Films (Central), Vertrieb: Central Film Verleih
Kinostart: 06.01.2021

FILMKRITIK:

Dass „Lamb“ auch in Deutschland auf die große Leinwand kommt, kann man nur begrüßen. Sieht man im Kino doch viel zu selten unheimliche Filme, die das Publikum nicht andauernd mit aggressiven Schockeffekten traktieren und alle möglichen Entwicklungen lang und breit ausbuchstabieren. Auf einen rätselhaften Einstieg, der zeigt, wie eine Schafherde in einem Stall auf irgendetwas oder irgendjemanden mit Ehrfurcht zu reagieren scheint, führt Jóhannsson den Zuschauer in das eintönig-arbeitsame Leben des Paares María (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snær Guðnason), das mitten im isländischen Nirgendwo einen Bauernhof besitzt. Fast zehn Minuten lang verfolgen wir die täglichen Routinen der Hauptfiguren, ohne dass die beiden miteinander sprechen würden. In der Einsamkeit braucht es offenbar nicht viele Worte.

Die durchaus bedrückend wirkende Schweigsamkeit ist nicht zuletzt Ausdruck eines erlittenen Traumas, das uns der Film nicht entgegenschreit, sondern im Vorbeigehen näherbringt: María und Ingvar haben ihr Kind verloren. Das Drehbuch, das der Regisseur zusammen mit dem isländischen Autor und Künstler Sjón (bürgerlich: Sigurjón Birgir Sigurðsson) verfasste, wartet vor diesem Hintergrund mit einer ungeahnten zweiten Chance auf. Eines Tages staunen die Protagonisten nämlich nicht schlecht, als sie einem Lamm helfen, auf die Welt zu kommen. Dieses Mal ist etwas anders. Das verraten schon ihre ungläubigen Blicke und ihre Entscheidung, dass kleine Wesen zu sich ins Haus zu holen und wie ein Baby aufzuziehen. Mit einiger Verzögerung erfährt auch der Betrachter den Grund für das ungewöhnliche Verhalten: Die Kreatur ist eine – tricktechnisch überzeugend umgesetzte – Mischung aus Tier und Mensch.

Die handfesten Irritationen, die man sofort verspürt, drückt Ingvars vorübergehend auf dem Hof einkehrender, gegenüber seiner Schwägerin aufdringlicher Bruder Pétur (Björn Hlynur Haraldsson) nur wenig später deutlich aus. Nach der Enthüllung könnte „Lamb“ ins Lächerliche kippen. Jóhannsson vollbringt aber das Kunststück, sein reichlich absurdes Szenario völlig normal erscheinen zu lassen und mit wahrhaftigen Emotionen aufzuladen. Weil María und ihr Mann nicht an ihrem neuen Familienglück zweifeln, das nach ihrem verstorbenen Kind Ada getaufte Geschöpf wie selbstverständlich umsorgen und einkleiden, ist man plötzlich bereit, die ungewöhnliche Situation anzunehmen, und freut sich für das leiderprobte Paar, das seinen Schmerz langsam abstreifen kann und sich plötzlich viel herzlicher begegnet.

Umweht wird das Aufblühen ihrer Beziehung allerdings von einem herannahenden Unheil, das man lange Zeit nicht richtig zu fassen kriegt. Von Anfang an mutet die raue, karge, mächtig aufragende, oft nebelverhangene Landschaft rund um die Farm bedrohlich an. Die Schafe schauen – so meint man jedenfalls – durchtrieben drein. Immer wieder gibt es Momente, die darauf hindeuten, dass sich irgendwer in der Umgebung des Bauernhofs herumtreibt. Und ein ungemütliches Gefühl weckt auch die sparsam eingesetzte, ominös grollende Musik. Mit seiner betont entschleunigten Erzählweise, die dem Regisseur von manchem Kritiker bereits als prätentiös ausgelegt wurde, verlangt Jóhannsson seinem Publikum viel Geduld ab, demonstriert gleichzeitig aber ein Gespür für Stimmungen und ein bemerkenswertes Stilbewusstsein.

Gerade weil der Film nichts überstürzt, eine mögliche Eskalation ständig hinauszögert, ist es schade, dass das Ende einen abrupten und gehetzten Eindruck hinterlässt. Mit der Rache der Natur am Menschen greift „Lamb“ ein in Zeiten des stetig voranschreitenden Klimawandels brandaktuelles Thema auf. Sein schockierend gedachter Abschlusstwist kommt allerdings etwas plump daher und wird dem vorher so konzentrierten Spannungsaufbau nicht gerecht. Die Ernüchterung hält sich dennoch in Grenzen. Ist der Weg zum Finale in seiner sorgsam komponierten Art und Weise doch unerwartet fesselnd. Zumindest dann, wenn man keine grundsätzliche Abneigung gegen bedächtig vorgetragene Geschichten hegt.

Christopher Diekhaus