Lieber Thomas

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Wer war Thomas Brasch? Und noch viel mehr: Wer wollte er sein? Vielleicht wusste der Dichter, Rebell, Filmemacher das selber nicht genau. Am Ende des zweieinhalb Stunden langen biographischen Porträts „Lieber Thomas“ weiß der Zuschauer dank der mitreißenden Darstellung von Albrecht Schuch zumindest eins: Thomas Brasch war ein faszinierender, vielschichtiger, ambivalenter Mann und eine geradezu exemplarische Künstlerfigur.

Website: https://www.wildbunch-germany.de/movie/lieber-thomas

Deutschland 2021
Regie: Andreas Kleinert
Buch: Thomas Wendrich
Darsteller: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob, Jörg Schütauff, Anja Schneider, Marlen Ulonska
Länge: 150 Minuten
Verleih: Wild Bunch, Vertrieb: Central
Kinostart: 11.11.2021

FILMKRITIK:

Als Thomas Brasch im Jahre 2001 in Berlin starb, viel zu früh, mit nur 56 Jahren, war es still um ihn geworden. Nach der Deutschen Einheit, im letzten Jahrzehnt seines Lebens, hatte Brasch kaum noch etwas veröffentlicht, auch keine Filme mehr drehen können. Manisch arbeitete er an einem großen Roman, der zum Zeitpunkt seines Todes mehrere tausend Seiten lang war, ein ausuferndes, nicht vollendetes Werk, ein bisschen wie Braschs Leben selbst. Wie sehr das Leben von Thomas Brasch und seiner Familie, die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt, davon erzählte vor ein paar Jahren Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „Familie Brasch“, deren fiktionale Version nun Andreas Kleinert mit seinem Spielfilm „Lieber Thomas“ erzählt.

Als Sohn eines hohen SED-Beamten wuchs der 1945 geborene Thomas Brasch (Albrecht Schuch) auf, durchaus privilegiert, aber nie ohne kritischen Blick auf seine Lebensumstände. Die Niederschlagung von Protestbewegungen in befreundeten sozialistischen Ländern empörte Brasch, Flugblätter wurden gedruckt, ein Gefängnisaufenthalt durch den Verrat des Vaters folgte. 1977 verließen er und seine damalige Freundin Katarina (Jella Haase) die DDR, offiziell freiwillig, vor allem aber, weil Brasch in seiner Heimat keine Texte veröffentlichen konnte. Ein Systemwechsel, der für die Künstlernatur Brasch nicht so groß war, wie es Außenstehende, gerade die Medien im westliche Teil Deutschlands gerne sehen wollten. Wie Brasch sich nun nicht instrumentalisieren, wie er sich nicht als Kritiker des DDR-Systems benutzen ließ, ist einer der interessantesten Aspekte seiner Biographie, die, so deutet es Kleinerts Film an, letztendlich zu seiner Isolation, der zunehmenden Flucht in Alkohol und Kokain führte.

Bisweilen zwangsläufig etwas episodisch ist das genau recherchierte Buch von Thomas Wendrich, viele Ereignisse wollen behandelt werden, Zeitsprünge zerstückeln den Fluss, Kapitel teilen den Film, das Leben Braschs ein. Zusammengehalten wird der große Bogen vom einmal mehr außerordentlichen Albrecht Schuch. Mit größtem Elan wirft er sich in die Rolle des Künstlers und Lebemann, dem die Frauen zu Füßen lagen, der seine rebellische Natur auslebte, dabei aber nicht nur gegen einfache Gegner austeilte, sondern auch kritisch mit sich und seiner Rolle im System umging.

Besser gesagt: In beiden Systemen, denn weder in seiner ersten Lebenshälfte in der DDR, noch später in der BRD passte Thomas Brasch wirklich dazu, sah klar die Missstände der jeweiligen Systeme, wollte sich weder hier noch da vereinnahmen lassen. Ob es das war, das ihn zunehmend einsam werden ließ, in die unendliche Arbeit an einem Mammutroman flüchtend, in dem er das Leben des Mörders Karl Brunke sezieren wollte? Kleinerts Film deutet Antworten nur an, erzählt im großen Bogen, in starken schwarz-weiß Bildern vom Leben eines kaum zu fassenden Mannes, der viel zu lange in Vergessenheit geriet. Nicht nur ein Film über einen Künstler ist „Lieber Thomas“, sondern auch ein Film über deutsche Verhältnisse, vor allem aber auch ein Film über den schwierigen und manchmal zerstörerischen Versuch, sich selbst treu zu bleiben.

Michael Meyns