Lost in face

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Eine der Aufgaben bzw. Möglichkeiten des Kinos ist es, Welten aufzuzeigen, die vorher verschlossen waren. Das müssen nicht unbedingt ferne Regionen der Erde sein, sondern können – wie im Fall von Valentin Riedls Dokumentation „Lost in Face“ – auch Regionen des menschlichen Gehirns sein. Um Gesichtsblindheit geht es in diesem außerordentlichen Film, der es schafft, etwas kaum Darstellbares verstehbar zu machen.

Website: https://lostinface.film/

Deutschland 2020
Regie & Buch: Valentin Riedl
Dokumentation
Länge: 81 Minuten
Verleih: Cine Global Filmverleih
Kinostart: 30.9.2021

FILMKRITIK:

Filme über Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen bemühen sich meist auf die ein oder andere Weise, die Einschränkungen für den Zuschauer erfahrbar zu machen. Mal geht das leichter, mal gestaltet es sich schwieriger. Die Einschränkungen, denen sich etwa ein im Rollstuhl sitzender Mensch in unserer Gesellschaft gegenübersieht, sind relativ leicht zu visualisieren, selbst die Folgen von Taub- oder Blindheit sind für einen ansatzweise einfühlsamen Zuschauer zumindest vorstellbar. Im Fall der Prosopagnosie, der so genannten Gesichtsblindheit, an der Carlotta, die Protagonisten von Valentin Riedls Dokumentation „Lost in Face“ leidet,wird es komplizierter. Gut ein Prozent der Bevölkerung soll an dieser Genmutation leiden, meist einer leichteren Form, die etwa dazu führt, dass man in Filmen Schwierigkeiten hat, zwei ähnlich aussehende Schauspieler zu unterscheiden.

Viel extremer wirkt sich die Gesichtsblindheit jedoch bei Carlotta aus, die der an der Technischen Universität München tätige Neurowissenschaftler Valentin Riedl für seine erste filmische Arbeit jahrelang beobachtete. Carlotta kann keine Gesichter erkennen, weder die von Menschen, die sie immer wieder trifft, aber auch nicht ihr eigenes. Jeden Morgen schaut sie in den Spiegel, weiß, dass sie sich selber sieht, sieht aber immer wieder eine Unbekannte. Kaum vorstellbar ist das, ebenso wenig zu begreifen wie etwa das nicht Vorhandensein eines Kurzzeitgedächtnisses, wie im Spielfilm „Memento.“

Darstellbar ist diese besondere Form der Sehschwäche, wenn man es so nennen mag, nicht, Riedl erklärt zwar, dass die Ursache in einem schwer zu erforschenden Defekt des Gehirns liegt, an einem Fehler an der Stelle hinter dem rechten Ohr, die ausschließlich dafür da ist, Gesichter zu erkennen und sich zu merken. Wie präzise die Evolution hier gearbeitet hat zeigt sich etwa daran, dass Carlotta dazu in der Lage ist, Pferde zu unterscheiden, deren längliche Gesichtsform weit genug von der Form eines menschlichen Gesichtes abweicht, um von der Prosopagnosie nicht betroffen zu sein.
Ohnehin wirkt die gut 60jährige (genauere Angaben über ihre Person macht Riedl nicht, auch der Name Carlotta ist ein Pseudonym) kaum eingeschränkt, lebt ein autarkes Leben, das nicht zuletzt daraus besteht, ihr eigenes Gesicht zu malen. Gut 1000 dieser bemerkenswerten Selbstporträts hat sie inzwischen gezeichnet, überträgt die ertastete Form ihres Gesichts auf die Leinwand, wo abstrakte Bilder entstehen.

Welche Einschränkungen die Prosopagnosie auf das Leben der Betroffenen, besonders auf zwischenmenschliche Beziehungen hat, kann man kaum ermessen. Anhand von Stimmen oder Bewegungen, versucht Carlotta Menschen zu identifizieren, geht inzwischen offensiv mit der Einschränkung um, die jahrzehntelang nicht diagnostiziert wurde. Eine bemerkenswerte Person, die Valentin Riedl im einem ebenso bemerkenswerten Film porträtiert.

Michael Meyns