Nelly & Nadine

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Der Dokumentarfilm „Nelly & Nadine“ erzählt eine beeindruckende Liebes- und Lebensgeschichte, die ihren Anfang ausgerechnet in einem KZ nahm. Nelly Mousset-Vos und Nadine Hwang, zwei Häftlinge in Ravensbrück, lernen sich Ende 1944 kennen und lieben. Auch nach dem Krieg bleiben die Beiden zusammen. Doch innerhalb ihrer Familie wird über die lesbische Beziehung geschwiegen. „Nelly & Nadine“ begleitet Mousset-Vos‘ Enkelin bei ihrer Spurensuche. Herausgekommen ist ein einfühlsam erzählter Film und ein wichtiges Plädoyer gegen das Schweigen, konzentriert und zurückhaltend inszeniert.

Webseite: www.riseandshine-cinema.de/

Schweden, Belgien, Norwegen 2022
Regie: Magnus Gertten

Länge: 97 Minuten
Kinostart: 24.11.2022
Verleih: Rise and Shine Cinema

FILMKRITIK:

Es ist eine Schicksalsbegegnung inmitten des schlimmsten Leids: An Heiligabend 1944 lernen sich Nelly Mousset-Vos und Nadine Hwang im KZ Ravensbrück kennen. Die Belgierin Mousset-Vos war vor ihrer Deportation erfolgreiche Opernsängerin, Hwang war im chinesischen Widerstand aktiv. Fortan verbringen die beiden Frauen so viel Zeit wie möglich gemeinsam. Nach der Befreiung von Ravensbrück im April 1945 finden Mousset-Vos und Hwang einander wieder – und teilen fortan ihr Leben. Zuerst in Brüssel, dann im südamerikanischen Venezuela.

Doch lange Zeit ist die Beziehung der beiden Frauen nicht bekannt. Schließlich halten die wenigen Personen, die davon wissen, dies auch vor den engsten Angehörigen geheim. Zum ersten Mal öffnet nun Nelly Mousset-Vos‘ Enkelin, Sylvie Bianchi, das Privatarchiv des lesbischen Liebespaars. Und erhält Einblicke in die dunkle Zeit des Krieges, den Kampf gegen Widerstände und den Alltag zweier Frauen, die bis zu Hwangs Tod 1972 zusammenlebten.

Regisseur Magnus Gertten begleitete Sylvie Bianchi für seine Doku über einen Zeitraum von einem Jahr dabei, die unbekannten Seiten im Leben von Bianchis Großmutter herauszuarbeiten. Diese Spurensuche wäre nicht möglich gewesen ohne die Vielzahl an Dokumenten und (audio-visuellen) Hinterlassenschaften, die Mousset-Vos nach ihrem Tod 1987 ihrer Familie vermachte – und die von einer tiefen, unerschütterlichen Liebe und Verbindung zwischen zwei Frauen künden. Wir beobachten Bianchi dabei, wie sie sich alte Fotografien und private Super-8-Aufnahmen ansieht. Oder in den alten Tagebüchern ihrer Großmutter liest.

Voller Empathie aber gleichsam Rücksicht blickt der Regisseur auf diese, zu weiten Teilen verschwiegene Lebens- und Liebesgeschichte. Und ist hautnah mit dabei als Bianchi erstmals auf jene eindringlichen Passagen in den Tagebüchern stößt, die das Leid und die Angst im KZ beschreiben. Diese Momente fängt der erfahrene schwedische Filmemacher, der auf eine bescheidene, zurückhaltende und betont schlichte Inszenierung setzt, mit erstaunlicher Sensibilität und Intimität ein. Und die von Bianchi niedergeschriebenen Zeilen, ebenso poetisch wie wahrhaftig und schonungslos ehrlich verfasst, beweisen vor allem eines: wie tief die Gefühle von Nelly Mousset-Vos für Nadine Hwang waren und wie sie sich in Zeiten der kurzen Trennung nach dem Krieg danach sehnte, die Geliebte wieder zu sehen.

Dass ihre Familie die wahre sexuelle Identität der Sängerin bis zuletzt verschwieg, macht klar, wie groß die mit diesem Thema verbundenen Ängste, die Scham und die Intoleranz der Familie waren. Erfahrungen, von denen viele Angehörige der heutigen LBTQI*-Community nur zu gut berichten können. Insofern ist „Nelly & Nadine“ nicht zuletzt ein Film von enormer Aktualität, der einen wichtigen Teil zur Erinnerungskultur und zur Aufklärung beitragen kann. Und der zeigt, dass das (Ver-)Schweigen und eine fehlende Kommunikation für noch mehr Leid sorgen.

 

Björn Schneider