Nicht verRecken

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„Nicht verRecken“ – den Titel umweht eine experimentelle Aura. Dabei hat Martin Gressmann („Das Gelände“) einen rundherum sachlichen Dokumentarfilm über die NS-Todesmärsche gedreht. Formal ist das wenig aufregend, sondern ein Stück Erinnerungskultur, das ganz auf den Inhalt abhebt. Bei der Duisburger Filmwoche gab es für die verdienstvolle Recherche den Publikumspreis.

Webseite: www.salzgeber.de

Deutschland 2021
Regie & Buch: Martin Gressmann
Darsteller: Simcha Applebaum, Guy Chataigné, Alexander Fried, Karol Gdanietz, Wladimier Wojwodschenko

Laufzeit: 110 Min.
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 13. Oktober 2022

FILMKRITIK:

Als die Westalliierten und die Rote Armee ab Sommer 1944 immer näher an die Konzentrationslager der Nationalsozialisten rückten, trieben die SS-Wachen die verbliebenen Häftlinge auf bis zu 250 Kilometer lange Märsche. Bis in den April 1945 waren die sogenannten Todesmärsche aus Lagern wie Sachsenhausen und Ravensbrück die qualvolle Endstation für mindestens tausend Menschenleben.

Der Dokumentarist Martin Gressmann folgt den wesentlichen Marschrouten durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern und befragt einige der letzten Zeitzeugen. Ein trockener Off-Sprecher klärt historische Hintergründe. Der Titel „Nicht verRecken“ adressiert den schieren Überlebenskampf, passt aber kaum zur betont nüchternen Umsetzung, die sich ganz auf die Sache konzentriert. Zu den Aussagen auf Deutsch, Polnisch oder Französisch schwenkt die Kamera langsam über heute verlassene Lager und Orte der Zwangsarbeit, fährt Bahngleise oder Landstraßen ab. Die Zeitzeugen rücken in klassischen Porträtaufnahmen ins Bild.

„Sie sind womöglich die letzte Zeugin im Dorf, die das noch weiß,“ sagt Gressmann einer älteren Frau, die davon berichtet, dass Häftlinge aus Verzweiflung Gras gegessen haben sollen. Die Hochbetagten berichten vom Alltag und den Bestrafungsmethoden im Lager, von Erschießungen oder Einsätzen als Minensucher. Wenn es um letzte Begegnungen mit der Mutter oder der Jugendliebe geht, ist unmittelbar ersichtlich, wie nah die Vorkommnisse den Betroffenen bis heute gehen. Dabei scheinen auch Grautöne auf. Zum Beispiel erzählt ein Mann, wie er durch den Kontakt zu Mitgefangenen vom „Anti-Deutschen“ zum „Anti-Nazi“ wurde. Ein anderer stand kurz vor dem Kollaps, als ein Unbekannter ihm mit der Versetzung zum Kommando „Kartoffelschale“ das Leben rettete.

In der Zusammenschau ist „Nicht verRecken“ ein sachlich präsentiertes und informatives Dokument – gewissermaßen eine historische Quellensammlung. Martin Gressmann gibt einigen der letzten Überlebenden des NS-Terrors eine Stimme. Das ist so lehrreich wie wertvoll.

 

Christian Horn