Petrov’s Flu

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Nach Jahren des Hausarrest konnte der russische Regisseur Kirill Serebrennikov seine Heimat verlassen und lebt nun in Berlin im Exil. Vorher drehte er noch „Petrov’s Flu“, einen wilden, enigmatischen, wütenden Abgesang auf ein Russland im Wandel. Ein wirrer, bisweilen verwirrender Exzess aus flirrenden Bildern, einer delirierenden Handlung und absichtlichen wie unabsichtlichen Bezügen zur Gegenwart.

Petrovy v grippe
Russland 2021
Regie: Kirill Serebrennikov
Buch: Kilrill Serebrennikov, nach dem Roman von Alexey Salnikov
Darsteller: Semyon Serzin, Chulpan Khamatova, Vladislav Semiletkov, Yuri Kolokolnikov, Aleksandr Ilin

Länge: 145 Minuten
Verleih: Farbfilm Verleih
Kinostart: 26. Januar 2023

FILMKRITIK:

Anfang der Nuller Jahre, Jekaterinburg, kurz hinter dem Ural gelegen, der geographischen Grenze zwischen Europa und Asien, zwischen West und Ost. Jelzin ist gestürzt, das Land versinkt im Chaos, die Zukunft ist ungewiss. Und Petrov (Semyon Serzin) hat die Grippe. In einem Bus beginnt die lose Handlung, kurz darauf ist Petrov, eigentlich Automechaniker, Teil eines Erschießungskommandos.

Ein Freund gibt ihm Medikamente, die seinen delirierenden Zustand noch verstärken, zumal es die Nacht vor Silvester ist, die ganze Stadt, das ganze Land, kurz vor dem durchdrehen steht. Erinnerungen an seine Kindheit, an eine Begegnung mit Väterchen Frost, Musikaufführungen im Kindergarten, verschmelzen mit der Gegenwart.

Währenddessen versucht Petrovs Frau Petrova (Chulpan Khamatova), eine Bibliothekarin, während einer Lesung für Ordnung zu sorgen. Doch die zunehmend vulgäre Stimmung macht Petrova aggressiv und gewalttätig werden. Zu Hause, in ihrer kleinen Wohnung, wartet derweil Igor auf seine Eltern und freut sich auf das neue Jahr.

Mehrere Jahre stand der russische Theater-, Opern-, und Filmregisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest, vage Vorwürfe der Untreue schränkten seine Freiheit ein, die Gefahr einer Verurteilung und der Lagerhaft hingen in der Luft. Es hilft, mit diesem Wissen Serebrennikows neuen Film „Petrov’s Flu“ zu sehen, die Verfilmung eines Romans von Alexey Salnikovs, eine atemlose, irritierende, delirierende Reise durch die russische Nacht.

Vom ersten Moment an schwebt ein Gefühl der Paranoia, der Bedrohung über den Bildern, die Petrov – und mit ihm der Zuschauer – bald in einen wilden, oft auch wirren Strom aus Gedanken und Erinnerungen ziehen. Bilder aus Petrovs Vergangenheit verwischen sich mit der Gegenwart, kontemplative Momente wechseln ab mit Szenen, in denen der Verfall der staatlichen Ordnung überdeutlich wird.

War Serebrennikows vorheriger Film „Leto“ geprägt von sommerlichen Bildern und Melancholie, ist „Petrov’s Flu“ durchzogen von Chaos und Anarchie. Weniger eine nachvollziehbare Handlung, als lange Kamerafahrten halten das Geschehen zusammen, verbinden in fließenden Einstellungen die disparaten Ideen und Gedanken. Viel zu viel ist das oft, gespickt mit Anspielungen an die russische Realität, die aus der Ferne kaum zu verstehen sind, wild und ungezügelt, voller eindringlicher Bilder und Momente, auf die es sich einzulassen lohnt. Oft erinenrt „Petrov’s Flu“ eher einem seiner assoziativen Theaterstücke, mit denen er auch schon in Deutschland, etwa am Deutschen Theater in Berlin, zu Gast war, als einem konventionellen narrativen Film. Wütend und anklagend ist das, wuchtig und verwirrend. Inzwischen konnte oder musste Serebrennikov seine russische Heimat verlassen, lebt in Berlin und bereitet seinen neuen Film vor: Einem Film über den KZ-Arzt Joseph Mengele, mit August Diehl in der Hauptrolle.

 

Michael Meyns