Sun Children

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Ali und seine Clique machen die Straßen von Teheran unsicher – sie sind Straßenkinder, immer auf der Jagd nach ein bisschen Geld. Als sie von einem vergrabenen Schatz hören, wittern sie ihre große Chance. Der iranische Filmemacher Majid Majidi (u. a. DAS LIED DER SPERLINGE, 2007) sprengt mit seinem neuen Film die Genre-Grenzen. SUN CHILDREN ist gleichzeitig Abenteuerfilm und Jugenddrama, so spannend und mitreißend wie ein Thriller und so realistisch wie ein Dokumentarfilm.

Webseite: https://www.mfa-film.de/kino/id/sun-children/

Khōrshīd
Iran 2020

Regie: Majid Majidi
Drehbuch: Majid Majidi, Nima Javidi
Darsteller: Rouhollah Zamani, Ali Nasirian, Javad Ezzati, Tannaz Tabatabaie
Kamera: Hooman Behmanesh
Musik: Ramin Kousha

Länge: 99 Minuten
Verleih: MFA+
Kinostart: 5. Mai 2022

FILMKRITIK:

Obwohl sie noch Kinder sind, müssen Ali und seine Freunde hart arbeiten, um ihre Familien über Wasser zu halten. Eine Schule haben sie noch nie von innen gesehen, dafür sind sie aber schon äußerst versiert in verschiedenen handwerklichen Tätigkeiten hart am Rande der Kriminalität oder schon mitten drin. Als Spezialisten für alles, was mit Autos zu tun hat, sind die Jungs Tag und Nacht unterwegs: Sie montieren Räder von Luxuskarossen ab oder schneiden das Profil von alten Reifen nach. Ihre Aufträge erhalten sie von einem alten Gangsterboss, der Ali eines Tages ein Geheimnis preisgibt: Unter einer Schule in Teheran ist ein Schatz vergraben! Der Traum von einem Leben in Sicherheit und Wohlstand rückt in erreichbare Nähe.

Majid Majidi erzählt extrem temporeich, manchmal beinahe atemlos, der Film ist erfüllt vom Mut der Verzweiflung ebenso wie von jugendlichem Optimismus. Es gibt atemstockende Verfolgungsjagden, und die häufig verwendete Handkamera bleibt den Jungs immer dicht auf den Fersen. Die Mini-Gang um Ali, zu der als kleine Schwester auch Zahra gehört, die vom Verkauf von Socken in der U-Bahn lebt, bildet eine verschworene Gemeinschaft. Ihr Zusammenhalt und ihre Freundschaft ist ebenso Thema des Films wie ihr Wunsch, der Armut und dem Kreislauf von Kriminalität und Gewalt auf der Straße zu entkommen, bevor es zu spät ist. Um den Schatz zu finden, müssen die Kids sich allerdings erstmal in der „Sun School“ anmelden, einer gemeinnützigen Schule für Straßenkinder. So machen die Jungs eigentlich nur deshalb Bekanntschaft mit der Bildung, weil sie einen Geheimgang unter der Schule suchen. Dass sie dabei eigene verborgene Fähigkeiten entdecken, ist eigentlich nur ein erfreulicher Nebeneffekt – im Vordergrund steht die Schatzsuche.

Majidis Geschichte ist alles andere als ein mit dem pädagogischen Zeigefinger winkendes Sozialdrama, sondern vor allem ein großes, actionreiches Abenteuer, prall gefüllt mit aufwühlender Spannung. Dafür hat Majid Majidi ein Team von unglaublich guten Darstellern gefunden, allen voran Rouhollah Zamani, der für seine jungen Jahre extrem ausdrucksstark spielt – offenbar ein schauspielerisches Naturtalent. Er verkörpert den Ali gar nicht unbedingt als Führungspersönlichkeit, sondern er wirkt eher wie ein Junge, der sich aus der Not heraus mit anderen verbündet hat und nun erfreut feststellt, wie gut und wichtig es ist, Freunde zu haben. Erwachsene spielen in diesem Film kaum eine Rolle, und wenn sie auftauchen, dann verspricht das meistens nichts Gutes. In der Regel sind sie darauf aus, die Kinder für ihre Zwecke zu benutzen. Beinahe die einzige positive Ausnahme ist ein Lehrer an der „Sun School“.

Majidi schafft eine faszinierende Atmosphäre, die in ihrer nervösen Spannung und in der Heftigkeit ihrer Anklage an die Klassiker des italienischen Neorealismus ebenso erinnert wie an frühe Filme der französischen Nouvelle Vague. Über die Jahre – sein Œuvre umfasst bisher mehr als 15 Spielfilme – hat Majidi jedoch einen sehr persönlichen Stil entwickelt, der eher realistisch als naturalistisch ist und häufig über Symbole oder gleichnishafte Bilder Probleme anspricht: Im Vordergrund steht bei ihm jedoch immer eine starke, eine außergewöhnliche Geschichte. Sie vermittelt eine klare Botschaft, die häufig soziale Zustände anprangert. So auch hier. Ihr kaum verhüllter Appell richtet sich gegen eine Gesellschaft, die auf der einen Seite den größten Luxus zulässt, im Film symbolisiert durch lackglänzende Sportwagen, auf der anderen Seite aber Kinder zu einem Leben auf der Straße zwingt, wo sie früher oder später, meistens früher, in die Kriminalität rutschen. Die Schule, die über dem verborgenen Schatz liegt, steht für die Bildung, die für die Kinder vielleicht den einzigen Ausweg aus ihrem jetzt schon verkorksten Leben darstellen könnte. Und darin liegt auch die Quintessenz dieses Films, der nicht nur sehr unterhaltsam ist, sondern mit großer Wahrhaftigkeit, viel Action und leisem Humor von Kindern und ihrem Optimismus in einer kaputten Welt erzählt

 

Gaby Sikorski