Tár

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Ein kühles und kühnes Meisterwerk, einer der besten und gleichzeitig kompliziertesten Filme der letzten Jahre, sicherlich aber der beeindruckendste, was die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin betrifft. Die zweifache Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett spielt eine weltberühmte Dirigentin in der Krise – eine Tour de Force in Sachen Charakterdarstellung. Und sie löst die Aufgabe in brillanter Leichtigkeit. „Tár“ ist ganz und gar ihr Film: spannend und mysteriös, bissig, aktuell und fordernd, kurz und gut: ein intelligentes Vergnügen ersten Ranges.

USA 2022
Drehbuch und Regie: Todd Field
Darsteller: Cate Blanchett, Mark Strong, Julian Glover, Sydney Lemmon, Nina Hoss, Noémie Merlant
Kamera: Florian Hoffmeister
Musik: Hildur Guðnadóttir

Länge: 158 Minuten
Verleih: Universal
Kinostart: 2. März 2023

FILMKRITIK:

Lydia Tár ist Dirigentin und Komponistin, weltberühmt und viel beschäftigt, eine leidenschaftliche Künstlerin, die weiß, was sie will und was sie kann. Ihre Verdienste um die klassische Musik sind ebenso zahlreich und beachtenswert wie ihre Wohltaten und ihr soziales Engagement. Als Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker steht sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, und das in einer absoluten Männerdomäne. Nur selten gönnt sie sich Auszeiten, ein wenig Privatleben und die Ruhe ihrer schicken Wohnung in Berlin, die sie mit ihrer Lebenspartnerin Sharon und der gemeinsamen syrischen Adoptivtochter Petra teilt. Zur Krönung ihrer beruflichen und künstlerischen Laufbahn fehlt nur noch eines: Gustav Mahlers 5. Sinfonie zu dirigieren, um den kompletten Mahler-Zyklus zu vollenden, was bisher noch kein Maestro geschafft hat. Ausgerechnet die beliebte und oft gespielte 5. fehlt ihr. Da muss natürlich ein ganz besonderes Konzept her. Immer wieder musste sie das Projekt aufschieben, doch nun haben tatsächlich die Proben begonnen. Doch plötzlich gibt es hier und da kleine Irritationen, die sich zu massiven Störungen ausweiten. Sie schleichen sich in Társ Leben, bis sie schließlich ihr gesamtes Leben beeinflussen.

Mit lockerer Eleganz schreitet Tár als Maestro durch ihr vorbildliches Künstlerleben. Als Promi weiß sie genau, wie sie sich in Szene setzen muss, ohne allzu sehr im Mittelpunkt zu stehen. Sie ist der Rockstar der klassischen Musik, eine Frau, die alles richtigmacht. Lydia Tár ist witzig und gleichzeitig seriös, cool und dennoch warmherzig, auf fokussierte Weise intelligent und lebensklug, aber vor allem souverän, souverän, souverän. Und zwar in jeder Lebenslage. Aber vielleicht gibt es auch eine andere Tár? Vielleicht ist sie gar nicht diejenige, als die sie sich präsentiert? Gibt es Probleme? Hat sie sich womöglich selbst schuldig gemacht? Oder ist sie das unschuldige Opfer von Menschen, die ihr Böses wollen? Und wenn ja, wer will ihr da an den Kragen? Ist es ihre Lebensgefährtin Sharon, die auch ihre Konzertmeisterin in Berlin ist? Oder ihre tüchtige Assistentin Francesca, die ihr stets den Rücken freihält?

Todd Field („Little Children“, 2006) legt hier seinen lang erwarteten neuen Film vor – ein grandioses Meisterwerk. Eines seiner Themen scheint der Widerspruch zwischen Schein und Sein zu sein, hier auf die Spitze getrieben in Gestalt der scheinbar unangreifbaren und über alles erhabenen Tár, eine Frau, die Macht über andere hat und es genießt. Obwohl der Film wie ein Biopic wirkt, ist er keins. Die extrem komplexe Figur der Lydia Tár ist fiktiv. Eine vielschichtige Persönlichkeit, die kennenzulernen ebenso lohnend wie vielleicht auch gefährlich ist. Todd Field beginnt seinen Film geschickt mit einem Interview, in dem Tár vorgestellt wird – in ihrer ganzen positiven Ausstrahlung: das Idealbild einer Künstlerin und eines guten Menschen.

Der Film ist ein ästhetischer und musikalischer Hochgenuss. Um ihn zu genießen, muss man keine Ahnung von klassischer Musik haben, denn „Tár“ ist weder ein Konzertfilm noch ein Musikdrama, auch wenn die Musik eine wichtige Rolle spielt. Todd Field spielt damit, er ironisiert sogar die internationale Gemeinschaft der elitären Konzertgänger. Man könnte den Film als gelungenen Genremix bezeichnen, denn hier treffen Elemente aus der Komödie und sogar aus Horrorfilmen auf die des Melodrams, wobei Field stets die Persönlichkeit Társ in den Mittelpunkt stellt. Sie wirkt zu Anfang vollkommen natürlich und in ihrer privaten und öffentlichen Selbstdarstellung vollkommen kongruent. Doch dieses Bild beginnt bald zu wackeln. Todd thematisiert nicht nur indirekt die Rolle einer erfolgreichen Frau in der Kulturszene, ihre Suche nach künstlerischer Vollkommenheit und nach Hingabe, sondern auch sehr direkt die Cancel-Culture, ohne sie in den Mittelpunkt zu stellen. Und letztlich geht es um Macht.

Den Film und die Rolle der Tár hat Todd Field ausschließlich für Cate Blanchett geschrieben – ohne sie würde es dieses exzellente, sensationelle Drama mit den geschliffenen Dialogen nicht geben und mit den kühlen Bildern, die so gut zum unnahbaren Image von Lydia Tár passen. Cate Blanchett ist Lydia Tár mit jeder Faser. Es gelingt ihr mit fortschreitender Handlung immer mehr, auch die verletzliche Seite ihrer Figur herauszuarbeiten, ihre Einsamkeit und Ruhelosigkeit, die kleinen forschenden Blicke, mit denen sie ihr Gegenüber scannt, mehren sich. Und da ist auch etwas Dämonisches in ihrer Persönlichkeit. Der Abstand zu Sharon wächst, gleichzeitig mehren sich Anzeichen, dass Lydia nicht treu sein kann. Aber sollte man das verurteilen? Wer ist Lydia Tár wirklich? Scheinbar unbedeutende Unsicherheiten häufen sich, das Bild der souveränen Strategin, die immer das Richtige tut, nötigenfalls andere manipuliert oder mit ihrem Charme einwickelt, dieses Bild bekommt zunächst kaum sichtbare Risse. Wie Cate Blanchett das alles spielt, ist absolut fesselnd. Schauspiel in Perfektion – die Dünnhäutigkeit, die Kreativität und die Leidenschaft der Künstlerin zeigt sie ebenso wie ihre bewundernswerte Selbstkontrolle, ihre Härte, ihr Kalkül und ihre Raffinesse. Eine geniale Frau, die man gleichzeitig hassen und lieben kann. Dazu serviert Cate Blanchett wunderbar bissige, intelligente und auf den Punkt getimte Dialoge, die Lydia Társ Selbstvertrauen zeigen. Dieses Selbstvertrauen ist vielleicht ihr größter Fehler, denn selbstbewusste Frauen sind noch immer verdächtig, nicht nur in der Kulturszene. Um ihre Probleme zu bewältigen, hat sie niemanden, mit dem sie sprechen könnte oder der ihr helfen würde. Auf dem Gipfel ist es einsam. Was also könnte sie also tun? Sie könnte weiter wie besessen arbeiten, sie könnte die schöne Cellistin Olga (Sophie Kauer) verführen. Oder sie könnte einfach alles ignorieren, was um sie herum passiert.

Field zeigt den modernen Kulturbetrieb als Haifischbecken. Lydia Tár ist der große weiße Hai, der darin seine Runden dreht, leicht und locker. Ab und an gibt sie den kleinen Fischen um sich herum ein paar Funken ihrer Strahlkraft ab. Ansonsten hat sie nach allem geschnappt und alle weggebissen, die ihr im Weg standen. Aber ob das genügt, um sich auf Dauer an der Spitze zu halten?

 

Gaby Sikorski