Töchter

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Väter und Töchter – eine spezielle, oft lebenslang prägende Beziehung. 2016 räumte Maren Ade mit ihrer Vater-Tochter-Tragikomödie „Toni Erdmann“ reichlich Lob und hohe Publikumszahlen ab. Die Autorin und Regisseurin Nana Neul („Stiller Sommer“) liefert nun ein doppeltes Vater-Tochter-Drama nach dem Roman von Lucy Fricke, in dem sich zwei unterschiedliche Freundinnen mittleren Alters ihren zerrütteten Vater-Beziehungen stellen. Neul glückt ein schnörkellos inszeniertes Roadmovie voller Tragik und Komik. Obwohl vieles an dem Film literarisch ist, wirkt das Drama wie aus dem Leben gegriffen; ein Verdienst des starken Ensembles um Alexandra Maria Lara („Der Fall Collini“), Birgit Minichmayr („Schachnovelle“) und Josef Bierbichler („Der Knochenmann“).

Website: www.warnerbros.de/de-de/filme/tochter

Deutschland 2021
Regie: Nana Neul
Drehbuch: Lucy Fricke, Nana Neul
Darsteller: Birgit Minichmayr, Alexandra Maria Lara, Josef Bierbichler, Giorgio Colangeli, Andreas Konstantinou, Luisa de Santis, Gundi Ellert
Laufzeit: 122 Min.
Verleih: Warner Brothers
Kinostart: 7.10.2021

FILMKRITIK:

Martha und Betty (Lara, Minichmayr) sind beide um die Vierzig und ticken ziemlich unterschiedlich: Martha ist eher konservativ und verheiratet mit Kinderwunsch, Betty chaotisch mit Lust auf Abenteuer. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen sind die Gesetzte und die Freigeistige seit zwanzig Jahren eng befreundet. Also bittet Martha Betty um Beistand, als sie ihren schwerkranken Vater Kurt (Bierbichler) zur Sterbehilfe in die Schweiz fahren soll. In einem alten Golf geht es von Dortmund aus Richtung Süden, bis Kurt einen Zwischenhalt am Lago Maggiore wünscht. Eigentlich will der brummige Mann nämlich gar nicht sterben, sondern lieben. Betty fragt sich derweil, wo ihr seit Jahren totgeglaubter Stiefvater abgeblieben ist... Ein Roadtrip voller Abzweigungen und Wendungen, die um das Leben selbst kreisen.

Nana Neul adaptiert den 2018er Erfolgsroman von Lucy Fricke auf leisen Sohlen. Die dramatischen Zuspitzungen wirken nie aufgesetzt, sondern ergeben sich aus den Umständen selbst. Der Film, für den Neul das Skript zusammen mit Fricke verfasst hat, wirkt vom kapitelhaften Aufbau her und besonders in den Dialogen sehr literarisch, ohne dabei unfilmisch zu sein. Der Spagat gelingt vor allem dank der unaufdringlichen Kameraarbeit von Bernhard Keller („Western“) und der erlesenen Besetzung. Allen voran hat Josef Bierbichler viele Dialogzeilen, die teils an Kalendersprüche erinnern, dank des Schauspieltalents aber nie künstlich rüberkommen. „Das Glück kannst du teilen, aber das Leid nicht. Das Leid wird immer nur verdoppelt,“ sagt der Vater, oder: „Wer allein lebt, der denkt zu viel, immer im Kreise herum.“ Alexandra Maria Lara und Birgit Minichmayr stehen dem Routinier in nichts nach und machen ihre Figuren zu lebendigen Charakteren, deren Lebensprobleme zwischen Tragik und Komik changieren. Auch die Nebendarsteller, darunter Andreas Konstantinou als Bettys Urlaubsbekanntschaft Yannis, fügen sich geschmeidig in den Lauf der Dinge.

Die reduzierte Inszenierung lenkt den Blick umso mehr auf die inneren Befindlichkeiten. Kein Pomp verdeckt den Kern, auch Musik setzt Neul sehr sparsam ein. Was die Dynamik und die Spannungen zwischen den Charakteren und den wechselnden Fokus des Plots angeht, taten die Drehumstände im Rahmen der Corona-Maßnahmen dem Erzählfluss möglicherweise gut. Gleich viermal musste der Dreh neu angesetzt werden, was Neul und ihrem Editor Stefan Stabenow („Unter dir die Stadt“) die Möglichkeit für einen Rohschnitt des bis dahin gedrehten Materials gab. Wo Filmschaffende oft erst im Schneideraum merken, dass Material fehlt, entstand „Töchter“ gewissermaßen im „Rolling-Review-Verfahren“.

Bei aller inneren Einkehr ist das Drama zugleich ein Film der äußeren Bewegung. Einerseits als Roadtrip, der als deutsch-griechisch-italienische Koproduktion in der Schweiz, in Italien und auf der griechischen Kykladeninsel Station macht und viel im Auto oder in Hotels spielt. Andererseits als Film mit Wendungen, der mittendrin den Fokus der Geschichte wechselt und die Fäden am Ende wieder zusammenführt. Dazwischen gibt es im übertragenen wie reellen Sinn kleinere und mittlere Unfälle, Krisen und Trost. Nach dem Abspann bleibt ein gutes Gefühl dafür, worauf es in unsicheren Zeiten ankommt. Und das ist nun wirklich nicht das schlechteste, was ein Kinofilm bieten kann.

Christian Horn