Unruh

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Man staunt nicht schlecht: In einem beschaulichen Schweizer Bergdorf anno 1877 schwärmen die Arbeiterinnen einer Uhrenfabrik vom internationalen Anarchismus und solidarisieren sich wie selbstverständlich mit Streikenden aus Amerika. Nicht minder verblüffend, mit welch ausgewählter Freundlichkeit sich hier sämtliche Figuren, Antagonisten inklusive, begegnen. Für die visuellen Wow-Effekte schließlich sorgt eine exquisit komponierte Bildsprache, die souverän zwischen kunstvollen Totalen und wahnwitzigen Großaufnahmen balanciert. Wie aus einem Füllhorn purzeln Komparsen, bisweilen ein Kuh, in die Bild-Tableaus, um Hinter- und den Vordergrund zu füllen, derweil die Akteure irgendwo dazwischen mit atemberaubender Langsamkeit durch diese phänomenale Polit-Lovestory der poetischen Art führen. Rigorose Filmkunst, so präzise wie ein Schweizer Uhrwerk und so überraschend wie eine Wundertüte: „Clockwork Suprise“!

Webseite: https://grandfilm.de/

Schweiz 2022
Regie: Cyril Schäublin
Darsteller: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor, Valentin Merz, Laurence Bretignier, Laurent Ferrero, Mayo Irion, Daniel Stähli
Filmlänge: 93 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 5. Januar 2023

FESTIVALS: Berlinale 2022 Encounters
AUSZEICHNUNGEN: Regie-Preis Encounters Berlinale 2022

FILMKRITIK:

Schon vor dem Vorspann geht es denkbar bedächtig zu in diesem zweiten Kinowerk des Schweizer Regisseurs Cyril Schäublin. Ein Quartett vornehmer Damen wartet vor windiger Waldkulisse auf einen Fototermin. Mit einem Gläschen Champagner in der Hand plaudert man angeregt über Anarchie und Nationalismus. Und gönnt sich den jüngsten Tratsch über den hübschen Pyotr Kropotkin, einen russischen Anarchisten, der sich unglücklich verliebt haben soll, wie die kichernden Ladys aus vermeintlich verlässlicher Quelle wissen.

Rückblickender Schauplatz der amourösen Begegnung ist ein beschauliches Bergdorf im Schweizer Jura, das von der örtlichen Uhrenfabrik dominiert wird. Dort reist Pyotr Kropotkin aus Russland als Kartograf an, um eidgenössische Orte zu erfassen, die für die anarchistische Bewegung von Interesse sein könnten. Tatsächlich rumort es reichlich unter den Arbeitern und vor allem Arbeiterinnen der Uhrenfabrik. Sie fordern mehr Rechte. Möchten Lieferungen an Kriegsländer verhindern. Organisieren eine Solidaritäts-Tombola. Planen die Aufführung eines Theaterstücks über Französische Revolution oder wollen die Wahl des Fabrikchefs zum Abgeordneten verhindern.

Auf der anderen Seite pochen die Vorgesetzten mit der Stoppuhr in der Hand auf höhere Produktivität in der Fabrik. Verspätungen werden rigoros abgestraft und politische Aktivitäten mit Kündigung quittiert. Was nach Klassenkampf klingt, kommt ausgesprochen ruhig und bedächtig daher. Politische Pamphlete werden mir unaufgeregter Stimme am Arbeitsplatz vorgelesen und mit stillem Nicken zur Kenntnis genommen. Kampflieder bietet der Frauenchor wie hübsche Folklore dar. Umgekehrt bittet die Polizei die Anarcho-Demonstranten mit ausgesprochen höflichen Worten, die Straße zu verlassen. Was sogleich erfüllt wird. Auch Fabrikant Roulet erweist sich stets verständnisvoll und gesprächsbereit. Die enorme Freundlichkeit, mit der sämtliche Akteure sich hier einander begegnen, hat ähnlich surreale Qualitäten wie jenes pausenlose Suchen nach einem Zündholz für die nächste Zigarette. Dem Chef schenkt man gerne gleich ein ganzes Streichholzschächtelchen. Dass dort in winzigen Worten „Eigentum ist Diebstahl“ steht, nimmt der Unternehmer erstaunlich amüsiert zur Kenntnis.

An überraschenden Momenten herrscht keine Mangel in diesem ungewöhnlichen Politdrama. Weshalb die beiden Dorfpolizisten so fleißig auf Leitern steigen, um regelmäßig an den Uhren zu drehen, sei vorab so wenig verraten wie jener Knalleffekt der Schweizer Nationalhymne „Rufst du mein Vaterland“, deren Klänge verblüffend vertraut klingen. Verschwiegen sei zudem, was es mit der anfänglich verkündeten Lovestory des Anarchisten tatsächlich auf sich hat.

So innovativ die Erzählweise mit ihrer tatsächlich atemberaubenden Langsamkeit ausfällt, so einfallsreich gerät die Bildsprache. In den hübsch komponierten Tableau-Bildern tummeln sich die Komparsen im Hinter- und Vordergrund. Mal kreuzt eine Kuh das Bild oder Rauchschwaden ziehen endlos vorüber. Auf den ersten Blick sind die Akteure in diesem Panoptikum bisweilen gar nicht zu erkennen. Ein großer Baum oder eine Hauswand versperren gekonnt die Sicht. Als Kontrast zu den kunstvolle Totalen gesellen sich wahnwitzige Großaufnahmen. Ob von Gesichtern oder von Bauteilen der Uhrwerke, darunter jene titelgebende Unruh. Bei der Darstellung der filigranen Handwerkskunst gibt es kein Vertun, schließlich stammt Regisseur Cyril Schäublin aus einer Uhrmacherfamilie. Für seinen Filmkunst-Coup gab es auf der Berlinale den Regie-Preis - dem werden mit Sicherheit noch etliche mehr folgen.

 

Dieter Oßwald