Vesper Chronicles

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Mit begrenzten Mitteln gedreht, aber eindrucksvoller als viele teure Hollywood-Vertreter: Das lässt sich mit Fug und Recht über das in belgisch-französisch-litauischer Koproduktion entstandene Science-Fiction-Abenteuer „Vesper Chronicles“ sagen. Die dystopische Welt, die das Regieduo Kristina Buozyte und Bruno Samper in seiner Gemeinschaftsarbeit entwirft, ist aufregend und originell, versinkt nicht in künstlichen digitalen Effekten, wird vielmehr konkret erfahrbar. Schön, dass es im Meer des seit einigen Jahren boomenden Endzeitkinos noch solche Perlen gibt!

Regisseur: Kristina Buozyte, Bruno Samper
Drehbuch: Kristina Buozyte, Bruno Samper, Brian Clark
Darsteller: Raffiella Chapman, Rosy McEwan, Eddie Marsan, Richard Brake, Melanie Gaydos, Edmund Dehn u. a.

Länge: 114 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Verleih/Vertrieb: Plaion Pictures/24 Bilder
Kinostart: 06.10.2022

FILMKRITIK:

Die Gefahr einer ökologischen Katastrophe, über die heute viel diskutiert wird, die aber noch immer nicht bei allen angekommen ist, hat sich in „Vesper Chronicles“ auf schreckliche Weise konkretisiert. Um den worst case abzuwenden, experimentierte die Menschheit in großem Stil mit Gentechnologie, beschleunigte dadurch aber erst recht die Verwüstung des Planeten. Im Labor erschaffene Viren und Organismen gelangten nach draußen, verseuchten die Böden und vernichteten essbare Pflanzen, Tiere und weite Teile der Bevölkerung. Die Apokalypse brachte schließlich ein Zweiklassensystem hervor mit einer kleinen Gruppe Privilegierter, die abgeschottet und unbeschwert in hoch aufragenden Städten, den sogenannten Zitadellen, residieren, während am Boden die Besitzlosen tagtäglich dem Tod ins Auge sehen. Um nicht zu verhungern, sind sie auf den Handel mit der Oligarchie angewiesen, erhalten im Tausch für Blutkonserven Saatgut, das jedoch so manipuliert ist, dass es nur eine einzige Ernte abwirft.

Mit diesen niederschmetternden Informationen eröffnet der Film, der sich schon nach wenigen Momenten als ein erfrischend haptisches, plastisches Erlebnis erweist. Auch Buozyte und Samper greifen auf Hilfsmittel aus dem Computer zurück, setzen diese aber sparsam und sinnvoll ein. Mit seinen matschig-braunen Landschaftsbildern und seinen herrlich organischen Ausstattungsdetails zieht „Vesper Chronicles“ den Betrachter rasch in den Bann, lässt ihn die unwirtliche Ödnis regelrecht erfühlen. Was hier vom Regiegespann und seinen Mitstreitern zustande gebracht wird, ist aller Ehren wert, macht atmosphärisch erstaunlich viel her. Die Perspektiv- und die Trostlosigkeit, die aus der anfänglichen Texttafel sprechen, sind mit Händen zu greifen und werden verstärkt durch eine schmerzhaft-klagende Musikuntermalung.

Inmitten des Verfalls haust auch die junge Vesper (Raffiella Chapman) und bildet ein interessantes Gegengewicht zur vorherrschenden Tristesse. Obwohl sie das Erwachsenenalter noch lange nicht erreicht hat, kümmert sie sich aufopferungsvoll um ihren gelähmten, ans Bett gefesselten Vater Darius (Richard Brake) und nutzt ihre autodidaktisch erworbenen wissenschaftlichen Fähigkeiten, um in einem behelfsmäßigen Labor Forschung zu betreiben, mit der sie das Saatmonopol der Zitadellen durchbrechen kann. Vesper ist ehrgeizig, erfindungsreich und pflegt ein inniges Verhältnis zu Darius, der sie dank einer mit seinem Gehirn vernetzten Drohne auf ihren Streifzügen durch die Wildnis begleitet. Das Band zwischen Tochter und Vater ist der emotionale Kern der Geschichte, die, wenig überraschend, auch von einer langsamen Loslösung erzählt. Wenn es eine Zukunft gibt, dann steht dafür das gegen die Kontrolle und die Ausbeutung aufbegehrende Mädchen.

Ein Chance, endlich voranzukommen, tut sich auf, als Vesper eines Tages die im Wald bruchgelandete und verletzte Zitadellenbewohnerin Camellia (Rosy McEwan) aufliest und mit nach Hause nimmt. Während die beiden mehr und mehr Vertrauen zueinander aufbauen, droht allerdings Gefahr von Vespers Onkel Jonas (Eddie Marsan), der vom Absturz Wind bekommen hat und Camellia unbedingt in die Finger kriegen will.

Besser gründlich als schnell und effekthascherisch – diesem längst nicht von allen Filmemachern beherzigten Credo verschreiben sich Kristina Buozyte und Bruno Samper, die zusammen mit Brian Clark auch das Drehbuch schrieben, konsequent. „Vesper Chronicles“ hastet nicht von plot point zu plot point, nimmt sich vielmehr reichlich Zeit, die Beziehungen der Figuren zu erforschen, Szenen und Besonderheiten des dystopischen Settings wirken zu lassen. Gerade weil nicht an jeder Ecke die nächste Wendung lauert, entwickelt die kreierte Story-Welt, in der es etwa tödliche Pflanzen und Jugs genannte Sklaven der Elite gibt, eine beachtliche Anziehungskraft. Wer wissen will, wie überzeugendes Worldbuilding funktioniert, erhält hier ausgiebigen Anschauungsunterricht.

Auch wenn der Film sicherlich kein Feuerwerk an Spannungsmomenten abbrennt, gibt es eine Reihe wahrlich unangenehmer Gänsehautbegegnungen. Involviert ist stets der von Eddie Marsan furchteinflößend skrupellos und selbstsüchtig verkörperte Jonas. Ein Mann, der sich auf einem Hof sein eigenes Reich errichtet hat, Kinder um sich schart, deren Blut er an die Oberschicht verkauft, und nicht davor zurückschreckt, zu töten, um sein Überleben zu sichern und seine begrenzte Form der Macht zu wahren. Allein mit Blicken erschafft Charakterkopf Marsan einen Tyrannen, den man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

Zu den Stärken dieser visuell bestechenden Mischung aus Science-Fiction-Streifen und Coming-of-Age-Drama gehören auch die einprägsamen Schlussbilder, die aller Düsternis zum Trotz ein wenig Hoffnung spenden und sich dem üblichen Genrebombast verweigern. Am Ende steht eine kleine Geste, die jedoch eine große Wirkung haben könnte.

 

Christopher Diekhaus