Wir könnten genauso gut tot sein

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Als Eröffnungsfilm der Perspektive Deutsches Kino war „Wir könnten genauso gut tot sein“ in diesem Jahr auf der Berlinale zu sehen, der Debütfilm der deutsch-russischen Regisseurin Natalia Sinelnikova. Sie entwirft eine dystopische Zukunftsvision, in der eine Gated Community als zeitgemäße Metapher für den Wunsch nach Abgeschlossenheit und Sicherheit dient.

Webseite: https://www.eksystent.com/wir-konnten-genauso-gut-tot-sein.html

Deutschland 2022
Regie: Natalia Sinelnikova
Buch: Natalia Sinelnikova, Viktor Gallandi
Darsteller: Ioana Iacob, Pola Geiger, Siir Eloglu, Jörg Schüttauf, Mina Sagdic, Moritz Jahn, Susanne Wuest

Länge: 96 Minuten
Verleih: eksystent
Kinostart: 29.09.22

FILMKRITIK:

St. Phöbus heißt die Gemeinschaft, die ein abgelegenes Hochhaus und die umliegenden Gartenanlagen – inklusive Golfplatz – bewohnt. Die Aufnahme ist strikt geregelt, Bewerber stellen sich einem Gremium vor und werden abgelehnt oder aufgenommen, aus meist nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen.

Auch Anna (Ioana Iacob) durchlief einst diesen Prozess, zusammen mit ihrer Tochter Iris (Pola Geiger) wurde sie aufgenommen, doch so ganz scheint sie nicht dazuzugehören. Als Sicherheitsbeauftragte trägt Anna viel Verantwortung, soll das Innen vor dem unbestimmten und dadurch bedrohlichen Außen schützen, wird somit auch schnell zur Zielscheibe, wenn die Dinge aus dem Ruder zu laufen scheinen.

Und so passiert es. Der Hund von Hausmeister Gerti Posner (Jörg Schüttauf) ist verschwunden, Iris bildet sich ein, ihn mit ihrem „bösen Blick“ getötet zu haben und schließt sich in ihrem Zimmer ein. Als bald danach auch noch eine kleine Statue zerbricht, ist die Sorge unter den Bewohnern groß, das Misstrauen wächst und macht die irgendwie fremdländische, irgendwie nicht ganz dazugehörende Anna zur Zielscheibe der Verdächtigungen. Einen Täter muss es geben, glaubt die Hausgemeinschaft, einen Täter gibt es schließlich immer. Doch was, wenn es gar keinen Täter gibt, wenn das Verschwinden des Hundes eine ganz andere Erklärung hat?, wirft Anna ein, doch sie findet kein Gehör.

Wie sich das Geflecht an Mutmaßungen und Verdächtigungen zuspitzt, inszeniert die in Sankt Petersburg geborene  Natalia Sinelnikova als unterkühlte Versuchsanordnung, deren vielfältige Bezüge zur Gegenwart Europas zwar nie auf den Punkt gebracht werden, aber doch mehr als deutlich sind.

Gedreht wurde in einem Hochhaus im Berliner Stadtteil Marzahn, kein Neubau, sondern ein DDR-Bau, der mit seiner einst modernen Architektur inzwischen passend aus der Zeit gefallen wirkt und somit als idealer Drehort für einen zeitlosen Film wie „Wir könnten genauso gut sein sein“ erscheint. Denn was hier durchgespielt wird erzählt viel über Strukturen, wie sie gerade in den westlichen Demokratien Europas existieren. Ein wenig für das Außen öffnen will man sich schon, deswegen werden bisweilen Fremde wie Anna in die Gemeinschaft gelassen, vor allem um sich der eigenen Großzügigkeit und Weltoffenheit zu vergewissern. Doch wenn in der Gemeinschaft etwas schief geht, ist es sehr schnell eben dieses fremde Element, das verdächtigt wird. Schnell ist es da mit der Gastfreundlichkeit vorbei, schnell werden alte Vorurteile wieder hervorgeholt, die nicht verschwunden, sondern nur verdrängt waren. Dass nun Natalia Sinelnikova ihre Hauptfigur Anna, die Fremde, gerade nicht als strahlende Heldin zeigt, sondern andeutet wie auch Anna Teil der Strukturen wird und am Ende fast alles tut, um ihre Haut zu retten, lässt „Wir könnten genauso gut tot sein“ zu einem bemerkenswerten Film werden.

 

Michael Meyns