Wir sind dann wohl die Angehörigen

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Eine ungewöhnliche Perspektive wählt Hans-Christian Schmid in seinem Film „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ über die Reemtsma-Entführung: Weder der Entführte, noch die Ermittlung der Polizei stehen im Mittelpunkt, sondern die Erfahrungen der Angehörigen, besonders des 13jährigen Sohnes Johann Scherer. Dessen Erinnerungen sind Ausgangspunkt für ein genau beobachtetes und zum Ende erstaunlich spannendes Familiendrama.

Deutschland 2022
Regie: Hans-Christian Schmid
Buch: Hans-Christian Schmid & Michael Gutmann, nach dem Buch von Johann Scheerer
Darsteller: Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi, Hans Löw, Yorck Dippe, Enno Trebs, Fabian Hinrichs

Länge: 118 Minuten
Verleih: Pandora
Kinostart: 3. November 2022

FILMKRITIK:

Am 25. März 1996 wurde in Hamburg der Erbe der Zigarettendynastie Jan-Philipp Reemtsma entführt. Nach 33 wurde er nach Zahlung eines Lösegelds von 30 Millionen Mark freigelassen, schrieb bald das Buch „Im Keller“ über seinen Leidensweg. Während der Entführung hatte sich die deutschen Medien an die Bitte von Familie und Polizei gehalten, nicht zu berichten, um das Leben Reemtsmas nicht zu gefährden. Nach dessen Freilassung war die Zurückhaltung vorbei, ausgiebig wurden über missglückte Geldübergaben und mögliches Versagen der Polizei geschrieben, ohne das endgültig Klarheit über die Ereignisse erzielt wurde.

Wie es Reemtsmas Frau Ann Kathrin Scheerer und dem gemeinsamen Sohn Johann während und nach der Entführung gegangen ist, wurde dagegen kaum thematisiert. Ganz einfach wird das Leben des damals 13jährigen Johanns nicht gewesen sein, weder vor- noch nachher. Mit dem Abstand von über 20 Jahren schrieb Scheerer 2018 sein Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“, das nun die Basis für Hans-Christian Schmids Film bildet.
Gleich zu Beginn deutet eine Szene das gespannte Verhältnis des pubertierenden Sohnes mit seinem übermächtig wirkenden, intellektuellen, wohlhabenden Vater an. Latein soll gelernt werden, was für den bildungsbürgerlichen Vater eine Selbstverständlichkeit darstellt, für den Sohn dagegen unnützes Wissen. Im Streit geht man am Abend auseinander, am nächsten Morgen ist der Vater entführt.

Mit den Angehörigenbetreuern Vera (Yorck Dippe) und Nickel (Enno Trebs) ziehen zwei Männer in das Haus der Reemtsmas ein, die zwischen den Stühlen sitzen. Im Laufe der Tage, die mit dem Warten auf Anrufe der Entführer und dem Bangen um das Leben Reemtsmas vergehen, entwickelt sich notgedrungen eine Beziehung zu Johann und seiner Mutter (Adina Vetter). Die aber immer wieder durch polizeiliche Notwendigkeiten durchbrochen wird, den Versuch, den Tätern auf die Spur zu kommen.

Auch in Christian Schneider (Hans Löw), einem Freund der Familie hat Johann eine Art Ersatzvater, der ihm emotional viel näher zu stehen scheint, als sein wirklicher Vater. Dennoch steht der übermächtige Jan-Philipp Reemtsma immer im Raum, dreht sich – natürlich – alles um ihn, während der Sohn sich an den Rand gedrängt sieht, von der Treppe aus zuhört, was die Erwachsenen reden.

Noch verkompliziert wird das Geschehen durch einen unterschwellig angedeuteten Konflikt zwischen der bürgerlich-intellektuelle Welt der Reemtsmas, zu der auch ihr Anwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) zählt, und der pragmatisch-rationalen der Polizei. Beide Seiten glauben besser zu wissen als die andere, was das Beste für Reemtsma ist, dabei sind ihre Interessen zwar nicht diametral unterschiedlich, aber doch nicht identisch. Während die Familie nur hofft, dass Reemtsma frei kommt, hat die Polizei auch ein großes Interesse daran, dass die Täter gefasst werden.

Mit großer Genauigkeit beobachtet Hans-Christian Schmid diese Strukturen, enthält sich dabei stets einem Urteil über das Handeln der Akteure. Stehen Anfangs noch deutlicher Johann und seine Mutter im Mittelpunkt, entwickelt sich die zweite Hälfte zunehmend zu einem Polizeifilm, in dem die schließlich doch geglückte Geldübergabe fast minutiös nachgezeichnet wird. Wie ein solches unglaubliches, einschneidendes Ereignis die Familie, aber auch die anderen Beteiligten prägt, wird in den 120 Minuten von „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ spürbar deutlich. Die Familie jedenfalls Reemtsma-Scheerer dürfte nach der Entführung nicht mehr die selbe gewesen sein.

Michael Meyns