Wo in Paris die Sonne aufgeht

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Liebe in den Zeiten von Tinder. Das ist der Kern des neuen Films des französischen Star-Regisseurs Jacques Audiard, der für harte Genrefilme bekannt ist und diesmal scheinbar neue Wege einschlägt. Im Kern ist jedoch auch „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ein genau beobachteter Film über gesellschaftliche Sphären, angesiedelt im von Migranten geprägten 13. Pariser Arrondissement.

Website: http://www.neuevisionen.de/

Les Olympiades
Frankreich 2021
Regie: Jacques Audiard
Buch: Jacques Audiard, Léa Mysius, Céline Sciamma, nach Comics von Adrian Tomine
Darsteller: Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant, Jehnny Beth, Camille Léon-Fucien, Océane Cairaty, Anaïde Rozam, Pol White,
Länge: 105 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 07.04.2022

FILMKRITIK:

Im von Hochhäusern und Architektur, die in den 70er Jahren als modern galten, geprägtem 13. Arrondissement von Paris, lebt die Chinesin Emilie (Lucie Zhang). Sie schlägt sich mit Aushilfsjobs durch, hat kaum Kontakt zu ihrer Familie und sucht einen Mitbewohner. Diesen Part übernimmt Camille (Makita Samba), ein selbstbewusster Lehrer, der bald auch Emilies Lover wird. Zumindest für ein paar Nächte, dann ist es vorbei und Camille zieht aus.

Bald arbeitet er als Immobilienmakler und stellt Nora (Noémie Merlant) ein, die 33 Jahre alt ist und einst aus der Provinz nach Paris gezogen war, um zu studieren. Doch bei einer Party hatte sie eine Platinblonde Perücke getragen, in der sie dem Camgirl Amber Sweet (Jehnny Beth) zum Verwechseln ähnlich sah. Ohne zu ahnen, welche Folgen das haben würde, stimmte sie einem Selfie zu und bekam daraufhin die ganze Härte der sozialen Medien zu spüren. Auf dem Campus war sie schnell als Hure verschrien und wurde gemobbt. Doch die sozialen Medien, die ihrem Traum vom Studium zerstört haben, ermöglichen es Nora auch, mit Amber Kontakt aufzunehmen und einen Online-Dialog zu beginnen.

Fast könnte man das 13. Arrondissement von Paris für den Hauptdarsteller von Jacques Audiards neuem Film halten, ein Bezirk, der diverser ist als andere der französischen Hauptstadt. Hier finden sich nicht jene herrschaftlichen Häuserblocks, die man zunächst mit Paris in Verbindung bringt, sondern Neubauten, die bei einer umfassenden Stadterweiterung in den 70er Jahren entstanden. Dementsprechend lebt hier nicht die Bourgeoisie, sondern Menschen aus der Mittelschicht oder auch der unteren Mittelschicht, die sich Wohnungen in der Innenstadt nicht leisten können. Einfache Angestellte, Studenten – denn die Uni ist nicht weit – auch viele Migranten und Franzosen, die nicht weiß sind.

Mit diesen gesellschaftlichen Sphären kennt sich Audiard aus, meist hat er sie jedoch dezidiert aus männlicher Sicht beschrieben. Um Comics des bekannten New Yorker Autors Adrian Tomines zu adaptieren, hat sich Audiard nun zwei weibliche Stimmen zur Unterstützung geholt: Das Drehbuch schrieb er zusammen mit Léa Mysius, deren Regiedebüt „Ava“ viel Lob bekam, vor allem aber mit Céline Sciamma, die mit ihrem „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ einen der meistdiskutierten Filme über weibliches Verlangen der letzten Jahre gedreht hatte.

Auch wenn der deutsche Titel „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ arge Beliebigkeit andeutet, ist Audiards Film härter, direkter: In brillanten schwarz-weiß Bildern erzählt er von Mobbing, Vorurteilen, sexueller Freiheit und der Schwierigkeit, sich selbst zu finden. Dass etliche Figuren nicht weiß sind, stellt Audiard nicht aus, sondern erzählt es beiläufig mit. Diversität ist hier kein Verkaufsargument, sondern einfach die Realität der Lebenswelt der Figuren. Viel wichtiger ist die Suche nach Nähe und Liebe in einer von der Oberflächlichkeit der sozialen Medien geprägten Welt. Aus diesen Zutaten formt Audiard ein mitreißendes, brillant gefilmtes Gesellschaftsporträt, mit dem der französische Auteur einerseits einen neuen Weg einschlägt, andererseits seine genau beobachteten Milieustudien auf sehr moderne Weise fortsetzt.

Michael Meyns