Wo ist Anne Frank?

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Verfilmungen des Tagebuchs von Anne Frank gab es im Lauf der Jahre viele. Einen neuen Ansatz zu finden, um sich der Geschichte zu nähern, ist gar nicht leicht, Ari Folman ist es aber gelungen. Er erzählt nicht aus der Perspektive von Anne Frank, sondern aus der ihrer imaginären Freundin Kitty, die im Amsterdam der Gegenwart zu eigenem Leben erwacht. Sie muss sich fragen, ob sich die Welt seit den Tagen ihrer Freundin wirklich so sehr verändert hat. Ein schöner, zu Herzen gehender Film, der am Ende nur etwas zu sehr ins Predigen verfällt und nicht darauf vertraut, den Zuschauer die gezeigten Parallelen selbst erkennen zu lassen.

Webseite: http://farbfilm-verleih.de/filme/wo-ist-anne-frank/

Where Is Anne Frank
Frankreich / Luxemburg / Israel / Niederlande / Belgien 2021
Regie: Ari Folman
Buch: Ari Folman

Länge: 99 Minuten
Verleih: Farbfilm-Verleih
Kinostart: 23. Februar 2023

FILMKRITIK:

Im Amsterdam der Gegenwart erwacht Kitty, die imaginäre Freundin, an die Anne Frank in ihrem Tagebuch immer schrieb, zum Leben. Mitsamt dem Tagebuch verlässt sie das Anne-Frank-Haus. Dort war sie unsichtbar, außerhalb ist sie sichtbar, aber nur, wenn sie das Tagebuch bei sich hat. Sie lernt einen Jungen kennen, der ihr hilft, auch und gerade, als sie als Diebin des Tagebuchs überall gesucht wird. Kitty erfährt zudem mehr über das Schicksal von Anne, das sie zutiefst erschüttert, während sie auf den Straßen Amsterdams miterlebt, wie Flüchtlinge aus Kriegsgebieten von der Polizei zusammengetrieben werden. Hat sich denn überhaupt etwas in den letzten 80 Jahren verändert?

Ari Folman widmet den Film seinen Eltern, die in derselben Woche wie die Familie Frank im Konzentrationslager Bergen-Belsen ankamen. Der israelische Filmemacher, der mit „Waltz with Bashir“ einen eindrucksvollen Zeichentrickfilm für Erwachsene vorgelegt hat, hat sich eines Herzensthemas angenommen. Er präsentiert einen Holocaust-Film, der aus einer ungewöhnlichen Perspektive erzählt wird. Zugleich erschafft er Parallelen, wenn er seine Hauptfigur, die die moderne Welt nicht kennt, auf diese treffen lässt, und Flüchtlinge sieht, die abgeschoben werden sollen.

Am Ende trägt er etwas zu dick auf. Einerseits ist die Lösung des Problems, wie Kitty sie durchsetzt, von unglaublicher Naivität geprägt, andererseits verläuft sie völlig ohne jedes Hindernis. Weniger wäre hier mehr gewesen, zumal der Film hier auch ins Predigen verfällt. Der Zuschauer versteht aber auch ohne Kittys flammenden Monolog die Parallelen, die der Film benennt.

Das ist ein kleiner Makel von „Wo ist Anne Frank“, aber eben wirklich nur ein kleiner. Am Ende mag der Film ein wenig entgleisen, bis dahin geht er aber ans Herz, auch wenn man längst weiß, wie es um das Schicksal von Anne und ihrer Familie beschieden ist. Aber als Kitty das herausfindet, fühlt man mit ihr, geradeso, als würde man auch zum ersten Mal im Leben davon hören, was Anne und den anderen Menschen in ihrer Unterkunft zugestoßen ist.

Der Film pickt nur Einzelheiten aus Anne Franks Leben heraus. Er will gar keine kompakte Form des ganzen Tagebuchs liefern, sondern vor allem Gefühle evozieren. Das gelingt ihm in praktisch jeder Sekunde. Er fängt die Essenz des Mädchens ein, das an Kitty geschrieben hat, und er hat mit Kitty eine Protagonistin, die den Zuschauer an die Hand nimmt, während sie selbst mehr über die Vergangenheit und die Gegenwart herausfindet.

„Wo ist Anne Frank“ ist zauberhaft animiert – die Figuren erwachen richtiggehend zum Leben. Zugleich nutzt Folman die Möglichkeiten der Animation, wenn er Anne Franks Phantasien lebendig werden lässt, aber auch, wenn er die Nazis als übergroße dämonische Gestalten zeigt, die sich turmhoch über ihre Opfer erheben.

Ein eindrucksvoller Film, der nur deswegen an der Perfektion vorbeischrammt, weil Folman am Ende die notwendige Zurückhaltung fehlt. Dennoch: Sehr sehenswert!

 

Peter Osteried