Birdman (oder: Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

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Die Omnipräsenz des Superheldenkinos löst immer wieder Kassandrarufe über den Verfall des Kinos, des guten Geschmacks oder gleich der Kultur als Ganzes aus. In diese Kerbe schlägt Alejandro G. Iñárritus ambitionierter, stilistisch aufregender neuer Film „Birdman“, der ein brillantes Schauspielerensemble auf einem Parforceritt inszeniert und zu einer vielschichtigen Kritik an Hollywood und Hochkultur gleichermaßen ansetzt.

Webseite: www.birdman-derfilm.de

USA 2014
Regie: Alejandro G. Iñárritu
Buch: Alejandro G. Iñárritu, Alexander Dinelaris, Jr., Armando Bo
Kamera: Emmanuel Lubezki
Darsteller: Michael Keaton, Emma Stone, Edward Norton, Zach Galifianakis, Amy Ryan, Naomi Watts, Andrea Riseborough
Länge: 119 Minuten
Verleih: TC Fox
Kinostart: 5. Februar 2015
 

Pressestimmen:

„Schon jetzt einer der schrägsten und überraschendsten Filme, die das Jahr uns bringen wird: Künstlermilieu, Hollywood-Tratsch, New York, Satire und ganz viel Spaß mit Fiktion und Wirklichkeit.“
Brigitte

FILMKRITIK:

Birdman, diese Rolle hat der alternde Schauspieler Riggan Thomson (Michael Keaton, Ende der 80er Jahre durch „Batman“ berühmt geworden) drei Mal gespielt. Doch zu Teil vier hat er Nein gesagt – so wie Keaton zu Teil drei – und seitdem ist seine Karriere im Tiefflug. Zusammen mit seinem Freund und Produzenten Jack (Zach Galifianakis) versucht Riggan nun noch einmal, seine Reputation zurückzugewinnen: Er inszeniert sich selbst in einer Adaption von Raymond Carvers Kurzgeschichte „What we talk about when we talk about love“ und das gleich am legendären Broadway. Doch die Proben laufen schleppend, Riggans Tochter Sam (Emma Stone) assistiert ihrem lange entfremdeten Vater, kämpft aber noch mit den Folgen ihrer Drogensucht, der neue Hauptdarsteller Mike (Edward Norton) ist ein manierierter Selbstdarsteller, aber auch ein brillanter Schauspieler, und über allem steht die Gefahr eines veritablen Flops.

Durch diese Welt bewegt sich Riggan mit flirrender Energie, ständig zwischen Enthusiasmus und Verzweiflung wechselnd und vor allem sein eigenes Schicksal beklagend. Wie sehr Riggan bei Sinnen ist, das ist vom ersten Moment des Films an die Frage, wenn man ihn im Schneidersitz in der Luft sitzen sieht, scheinbar schwebend. Eine bedrohliche Stimme spricht immer wieder zu ihm: Es ist Birdman, seine berühmteste Rolle, die ihn reich gemacht, aber auch eingeschränkt hat.

Wie ein filmischer Stream of Consciousness inszeniert Iñárritu das, lässt Riggan bisweilen kinetische Kräfte entfalten und später gar fliegen, deutet aber immer wieder an, dass diese Fähigkeiten nur im Kopf Riggans existieren. Zusätzlicher Clou: Bis auf zwei, drei Schnitte zu Beginn und am Ende ist der gesamte Film so inszeniert, dass er wie eine einzige, fließende Einstellung wirkt. Schwerelos gleitet die elektrifizierende Kamera von Emmanuel Lubezki durch die engen Flure des Theaters, in dem fast der gesamte Film spielt, umkreist die Darsteller und lässt Stunden und Tage ineinander fließen.

Was leicht zu Selbstzweck hätte verkommen können ist hier passendes stilistischer Mittel, um die Welten des Theaters und des Kinos zu verbinden. Manchmal wirkt es so, als würde es sich Iñárritu dabei mit der Dialektik zwischen Hochkultur und Hollywood allzu einfach machen, als wären die Bretter des Theaters auch hier die Welt, auf der sich Hollywoodschauspieler die Meriten holen, die ihnen im Mainstream-Action-Superheldenkino verwehrt blieben. Stattdessen deutet Iñárritu aber auch den kulturellen Verfall des Broadways an, auf dem immerhin inzwischen auch ein „Spiderman-Musical“ inszeniert wird und auch sonst nicht alles elitäre Hochkultur ist.

Und so kommt schließlich der ebenso lange wie schöne Untertitel von „Birdman“ ins Spiel: Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit, gleichzeitig der Titel einer Kritik in der New York Times, die Riggan nach der Premiere lesen darf – oder muss. Ob er mit Hilfe seiner ambitionierten Inszenierung zu sich selbst gefunden hat, ob er den Respekt bekommen hat, den er zu verdienen glaubt – beantwortet werden diese Fragen nicht. Iñárritu belässt es bei einem offenen Ende, das ebenso vielfältig zu interpretieren ist wie der gesamte Film, der inhaltlich, stilistisch und metaphorisch zu den reichsten Filmen des Jahres zählt.
 
Michael Meyns