Men & Chicken

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Man sollte sich nicht von der Harmlosigkeit des Titels täuschen lassen, denn hinter Anders Thomas Jensens „Men & Chicken“ verbergen sich Abgründe. Von der Satire früherer Filme wie „Adams Äpfel“ ist zwar auch noch einiges zu spüren, doch im Kern ist Jensens vierter Spielfilm eine verstörende Dystopie über Menschenversuche und Sodomie. Fraglos muss man sich auf „Men & Chicken“ einlassen, tut man dies jedoch, wird man mit einem herausragenden Film belohnt, der viel mehr ist als bloßes Schockkino.

Webseite: www.menandchicken-derfilm.de

OT: Mænd & høns
Dänemark/ Deutschland 2014
Regie, Buch: Anders Thomas Jensen
Darsteller: Mads Mikkelsen, David Dencik, Nicolas Bro, Nikolaj Lie Kaas, Soren Malling, Inger Lis
Länge: 104 Minuten
Verleih: DCM
Kinostart: 2. Juli 2015
 

FILMKRITIK:

Ohne Anders Thomas Jensen wäre das dänische Kino der letzten gut 15 Jahre kaum denkbar: Er schrieb die Drehbücher zu „In China Essen sie Hunde“, „Zwischen Brüdern“, „Nach der Hochzeit“, „The Salvation“ und zahlreiche andere Filme, die sich mal auf mehr komische, mal mehr dramatische Weise mit der Essenz der menschlichen Existenz auseinandersetzten. Mit diesen Themen beschäftigt sich Jensen auch in den Filmen, bei denen er selbst Regie führte, allerdings mit einem Hang zur bitterbösen Satire, die oft die Grenze zur Geschmacklosigkeit streift, aber doch nicht überschreitet. So böse jedoch „Dänische Delikatessen“ und „Adams Äpfel“ waren, sie lassen nur ahnen, welche Abgründe Jensen in seiner neuen Regiearbeit „Men & Chicken“ auslotet.
 
Es beginnt recht harmlos: Der Vater von Elias (Mads Mikkelsen) und Gabriel (David Dencik) stirbt und hinterlässt seinen Söhnen ein Video, auf denen er offenbart, gar nicht ihr richtiger Vater gewesen zu sein. Der lebt mit fast biblischen hundert Jahren angeblich immer noch auf einer kleinen Insel vor der dänischen Küste, aus guten Gründen fernab der Zivilisation. So machen sich die beiden Brüder auf den Weg, um Antworten zu finden. Soweit nichts Ungewöhnliches, die Brüder wirken zwar etwas komisch, Gabriel scheint von merkwürdigen Brechreizen geplagt zu werden und Elias muss fortwährend zum Onanieren verschwinden, doch ansonsten? Gut, gerade Elias wirkt mit seiner Hasenscharte, seiner ungesunden Gesichtshaut und seiner merkwürdigen Frisur eher wie das Ergebnis von Generationen der Inzucht, und auch sein unbeherrschtes Wesen mutet seltsam an.
 
Auf der Insel angekommen begegnen die Brüder einer Gemeinde im Verfall, in deren Mitte ein einstmals feudales Herrenhaus steht, dass seine besseren Zeiten lange hinter sich hat. Hier leben Franz (Soren Malling), Josef (Nicolas Bro) und Gregor (Nikolaj Lie Kaas), die unverkennbar die Halbbrüder von Elias und Gabriel sind. Nicht nur die Hasenscharten lassen die Verwandtschaft erkennen, auch die unbändige Aggressivität und der ausgeprägte Sexualtrieb lassen keinen Zweifel offen. Aus Mangel an willigen Frauen lebt sich Gregor mit Hühnern und anderen Tieren aus, von denen es im Haus viele gibt, zudem in ungewöhnlichen Formen: manche scheinen Rinderfüße zu haben, andere ähneln Schweinen. Während sich Elias schnell an das ziemlich gestört anmutende Leben seiner Brüder gewöhnt, wird Gabriel von seiner Neugier getrieben – und erhält Antworten, die ihn sprachlos machen.
 
Es ist bemerkenswert, mit welcher Nonchalance Anders Thomas Jensen Charaktere und Verhaltensweisen zeigt, die eigentlich mehr als befremdlich sind, um nicht zu sagen abstoßend, die im Kontext dieser Geschichte aber doch vor allem tragisch, ja, menschlich wirken. Denn auch wenn die äußeren Umstände, nun ja, etwas ungewöhnlich sind, geht es im Kern von „Men & Chicken“ um die ewige Suche nach Antworten zur eigenen Existenz, zur Herkunft, zum Sinn des Lebens. Unter all den Exzessen und Abgründigkeiten mögen diese Themen fast untergehen, doch wie in jedem guten Film, der mit Fantasy, mit Science-Fiction, mit Frankenstein-Motiven spielt, gelingt es auch Jensen, das Extreme seiner Geschichte nicht zum Selbstzweck verkommen zu lassen. Das Groteske von Geschichte und Figuren dient stattdessen dazu, ihre Menschlichkeit umso deutlicher herauszustellen, gerade auch die hinter dem wenig attraktiven Äußeren, dass die außerordentliche Maske gerade aus einem Adonis wie Mads Mikkelsen hier gemacht hat. Fraglos muss man sich auf „Men & Chicken“ einlassen, tut man dies jedoch, wird man mit einem herausragenden Film belohnt, der viel mehr ist als bloßes Schockkino.
 
Michael Meyns