All I Never Wanted

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Dass das Filmfest München für die heimische Kinolandschaft relevanter ist als die Berlinale, liegt nicht zuletzt auch daran, dass in München gemeinhin mutigere, eigenartigere und schlussendlich interessantere deutsche Produktionen ihre Premieren feiern. Eine davon ist „All I Never Wanted“ der Regisseurinnen Annika Blendl und Leonie Stade. Der Film nimmt die Theater-, Film- und Modewelt unter die Lupe, wobei die Mischform aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen zugleich ein Teil der Aussage ist.

Webseite: Cine Global

Deutschland 2019
Regie: Leonie Stade, Annika Blendl
Drehbuch: Annika Blendl, Leonie Stade, Oliver Kahl
Darsteller/innen: Mareile Blendl, Lida Freudenreich, Annika Blendl, Leonie Stade, Alexander Beyer
Laufzeit: 90 Min.
Verleih: Cine Global Filmverleih
Kinostart: 12. Dezember 2019

FILMKRITIK:

Wirklich glücklich sieht Mareile (Mareile Blendl) nicht aus, wie sie da bei ihrer Verabschiedung als TV-Kommissarin beklatscht wird. Kein Wunder, immerhin wurde die 42-jährige Aktrice durch eine Jüngere ersetzt, was ihr eine der Anwesenden noch mal ungeschickt vor Augen führt: „Ach schade, meine Mutter hat dich immer so gern gesehen.“ Mareile geht es wie vielen Darstellerinnen mittleren Alters: Sie bekommen keine Filmrollenangebote mehr, und wenn, dann eher als (Groß-)Mutter oder Hexe. Daher landet die TV-Heldin erstmal am Provinztheater, wo sie die Johanna von Orleans spielen soll. Für Mareile nur eine unliebsame Zwischenstation: „Wir werden dich da wieder wegbekommen“, verspricht ihre Agentin.
 
Die 17-jährige Nina (Lida Freudenreich) bricht hingegen voller Elan nach Mailand auf, um dort eine Modelkarriere zu starten. Die Traumerfüllung fängt viel versprechend mit etlichen Casting-Einladungen an, erweist sich dann aber als gar nicht so einfach wie vielleicht gedacht. Nina muss sich anpassen und effektiver verkaufen. Das fängt bei der Kleiderwahl an und beeinflusst natürlich auch den Instagram-Account, auf dem nackte Haut eben besser ankommt als Fotos mit Freunden.
 
„All I Never Wanted“ fängt aber ganz anders an, nämlich mit den Regisseurinnen Annika Blendl und Leonie Stade selbst auf dem Filmfest München. Dort, wo bereits ihr gemeinsam realisierter Dokumentarfilm „Mollath“ lief, und wo auch ihr neuer Film Premiere feierte. Realität und Fiktion fließen hier munter, aber nie beliebig ineinander, und das so geschickt, dass man sich bei der Eröffnungsszene zunächst in einer Doku wähnt. Dann wird aber klar, worum es geht: Blendl und Stade, die Abbilder oder Versionen ihrer selbst spielen, wollen als Filmfiguren eine Doku über Mareile und Nina drehen.
 
Die Konstruktion von „All I Never Wanted“ ist hochinteressant und vor allem deshalb so smart, weil sie den Inhalt auf so nahe liegende wie geniale Weise spiegelt. Denn auch der Plot handelt davon, wie Wahrheiten konstruiert werden und wie sich die Außendarstellung, zum Beispiel eben auf Instagram, mitunter erheblich vom tatsächlichen Alltag unterscheidet. Das Thema durch die Gattungsvermischung als Mockumentary zu spiegeln, ist ungemein effektiv.
 
Die vielen kleinen und größeren Seitenhiebe auf die Kulturszene sitzen ebenso wie die (selbst-)ironische Art, mit der das Geschehen immer wieder abgefedert wird. Eine kritische Betrachtung der sozialen Netzwerke, wo ja die unglamourösen Aspekte des eigenen Lebens eher weggelassen werden, geht mit intelligent verpackten Widerhaken einher. Da gibt es etwa einen Me Too-Moment (Produzent: „Ne Massage, das wärs jetzt“) und eine auf den ersten Blick humorvolle Szene, die tief blicken lässt: Als Mareile zwecks Brust-OP bei einem Schönheitschirurgen vorstellig wird, fragt dieser, was genau sie an ihrem Körper stört. „Alles, was alt macht, stört mich natürlich,“ meint Mareile. „Also zaubern kann ich auch nicht,“ sagt der Arzt.
 
Es ist eben ziemlich vertrackt: Einerseits will Mareile als renommierte Darstellerin mit dem entsprechenden schauspielerischen Talent wahrgenommen werden, andererseits ist sie bereit, das Spiel um Schein und Sein mitzutragen. Und so geht es wohl nicht nur Mareile und Nina, sondern so ziemlich allen Stars der Theater- und Modewelt. Eine Ausnahme scheinen Annika Blendl und Leonie Stade abzugeben – die machen mit „All I Never Wanted“ nämlich ihr eigenes Ding und schrecken auch nicht davor zurück, die ansonsten so verdächtig harmonisch scheinende Filmszene kritisch zu beäugen.
 
Christian Horn