Cold War – Der Breitengrad der Liebe

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Für „Ida“ bekam der Pole Paweł Pawlikowski vor drei Jahren den Oscar, fünf Europäische Filmpreise, einen BAFTA, den spanischen Goya sowie über 60 (!) weitere Auszeichnungen. Der Preisregen dürfte sich bei seinem jüngsten Meisterwerk wiederholen. Die rigorose Romanze, wiederum in wunderschön kristallklarem Schwarz-Weiß, bietet furiose Filmkunst vom Feinsten. Fünfzehn Jahre dauert diese raffiniert erzählte, elliptische Lovestory der Nachkriegszeit. Beginnend in der tristen polnischen Provinz, geht die Reise über Ostberlin ins glamouröse Paris und wieder retour. Eine zauberhafte Liebesgeschichte in Zeiten des versteinerten Stalinismus. Brillant inszeniert. Perfekt gespielt. Der Stoff, aus dem Klassiker gemacht sind. Und Publikumslieblinge. Und Oscar-Kandidaten sowieso.

Webseite: www.neuevisionen.de

Polen / Großbritannien / Frankreich 2018
Regie: Paweł Pawlikowski
Darsteller: Joanna Kulig, Tomasz Kot, Borys Szyc, Agata Kulesza, Cédric Kahn, Jeanne Balibar
Filmlänge: 89 Minuten
Verleih: Neue Visionen Filmverleih
Kinostart: 22.11.2018

FILMKRITIK:

„Warst du bei einer Hure?“ - „Ich habe kein Geld für Huren. Ich war mit der Frau meines Lebens zusammen!“. Dialoge wie diese wachsen kaum in schlechten Filmen. Die funkeln eher in der cineastischen Champions League. Das geht auch politischer: „Vielleicht künftig mehr Lieder über Agrarreform oder Weltfrieden!“ schlägt der Parteibonze dem Komponisten vor. Prompt wird der geliebte, wunderbare Stalin in höchsten Tönen besungen. Zur Belohnung dürfen die polnischen Nachwuchssänger alsbald in Ostberlin auftreten.
 
Ausgebildet werden die Musiker an einem neuen Konservatorium, das der junge Musiker Wiktor (Tomasz Kot) mit seiner Kollegin und Geliebten Irena (Agata Kulesza) kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet hat. Eigentlich wollen die beiden dort traditionelle Volkslieder einstudieren, um das kulturelle Leben zu bereichern. Bald erkennt freilich auch die Partei das propagandistische Potenzial der patriotischen Klänge. Wiktor plagen zunächst ganz andere Probleme. Bei einem Vorsingen stolpert er über die hübsche Bewerberin Zula (Joanna Kulig). Die verfügt nicht nur über ein grandioses Gesangstalent, sondern weiß zudem sehr genau, wie man sich perfekt in Szene setzt. Den Vorwurf, gegen den eigenen Vater gewalttätig geworden zu sein, kontert Zula gelassen: „Er hat mich mit meiner Mutter verwechselt und ich habe ihm mit dem Messer den Unterschied gezeigt.“
 
Wiktor ist sofort hellauf begeistert von der selbstbewussten Sängerin. Seine langjährige Partnerin Irena reagiert auf die talentierte Studentin naturgemäß weitaus skeptischer. Sie wird weder die drohende, leidenschaftlichen Affäre verhindern können, noch dass daraus jene ganz großen Liebe entsteht. Für das vorläufige Unhappy End sorgt die politische Lage. Wiktor will ein Gastspiel in Ostberlin zur Flucht in den Westen nutzen. Zula willigt ein, doch dann hat sie plötzlich andere Pläne. 
 
Jahre später trifft sich das Paar in Paris. In der Stadt der Liebe sind die alten Gefühle wieder sofort entflammt als wäre nichts gewesen. Mittlerweile jedoch wurde nicht nur anderweitig geheiratet, die polnischen Parteibonzen sinnen gleichfalls auf späte Rache für die einstige Flucht ihres Künstlers. Was tun? Bekanntlich gibt es kein richtiges Leben im falschen - und eben auch keine Liebe.
 
Paweł Pawlikowski versteht souverän, mit Wow-Effekten zu verblüffen, ohne je angeberisch oder anbiedernd zu wirken. Formal schwelgt er in wunderschönen Bildern in kristallklarem Schwarz-Weiß - die im strengen 4:3 „Academy“-Filmbild eine ganz besondere Wirkung erzielen. Mit Spiegeln oder Schatten entwickelt der Regisseur visuelle Ideen voll verspielter Raffinesse, um deren unangestrengte Leichtigkeit ihn jeder koksnasige Parfüm-Werbefilmer beneiden dürfte.
 
Der formalen Lässigkeit entspricht eine Dramaturgie, die ohne Schnickschnnack und Bling-Bling auskommt. Elegant setzt die Story auf den Mut zur Lücke: 15 Jahre Liebe in 89 Minuten Laufzeit müssen bewältigt werden. Dem Publikum wird, zugegeben, eine klitzekleine Portion Mitdenken abverlangt. Wofür es jedoch mit einer unwiderstehlichen Einladung zum Mitfühlen belohnt wird. „Mir gefällt es, Geschichten in starke Stücke zu destillieren und die Zuschauer die Geschichte entdecken zu lassen, ohne sich manipuliert zu fühlen“, beschreibt der Meister der Auslassung seine Absichten.
 
Das erzählerische Konzept geht bestens auf. Mit plausibel entwickelten Figuren wie diesen ist der Zuschauer nicht nur dabei, sondern mittendrin. Dass Joanna Kulig in manchen Momenten an Jeanne Moreau erinnert, kann der Magie kaum schaden. „In Polen warst du ein Kerl! Hier bist du anders!“, schmettert die selbstbewusste Lady dem schmachtenden Lover einmal entgegen.
 
Wie bekommt solch eine furiose Lovestory schließlich die Kurve? Natürlich rigoros. Brecht hätte gesagt: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Pawlikowski widmet im Nachspann den Film seinen Eltern, die ihm Vorlage waren - ein letztes Wow!
 
Dieter Oßwald