Tully

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Eine spannende Dramödie ums Muttersein: Marlo (Charlize Theron) kommt nach der Geburt ihres dritten Kindes kaum zum Luftholen und engagiert in höchster Not eine Night Nannie, die sich nachts um das Baby kümmert. Zwischen Tully, der Nacht-Babysitterin, und Marlo entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die jede Menge Überraschungen bereithält.
Das ist ein echter Coup mit Clou, ernsthaft und witzig zugleich. Charlize Theron spielt mit bissigem Humor und viel Mut zur ungeschönten Wahrheit die Mama in der Krise. An ihrer Seite ist die junge, frische Mackenzie Davis als Tully zu sehen – zwei tolle Frauen in einem warmherzigen, sehr sehenswerten Film von "Juno"- und „Up in the Air“-Regisseur Jason Reitman.

Webseite: dcmworld.com/portfolio/tully

USA 2018
Regie: Jason Reitman
Drehbuch: Diablo Cody
Darsteller: Charlize Theron, Mackenzie Davis, Mark Duplass, Ron Livingston
Kamera: Eric Stellberg
Länge: 86 Minuten
Verleih: DCM
Kinostart: 31. Mai 2018

FILMKRITIK:

Marlo ist zu Beginn hochschwanger. Sie hat schon zwei Kinder: die ältere, ruhige Sarah und Jonah, der wegen einer neurologischen Störung manchmal komplett ausrastet und viel Aufmerksamkeit braucht. Bis zur Geburt von Mia, die eigentlich nicht geplant war, läuft aber eigentlich alles ganz normal in der typischen Mittelklassefamilie. Marlo ist im Personalwesen tätig und managt, wie so viele Frauen, gleichzeitig Kinder, Beruf und Haushalt. Doch kaum ist das Baby da, ist nichts mehr wie zuvor: Marlos Alltag wird von der Fürsorge für Mia bestimmt, die älteren Kinder brauchen ebenfalls Zuwendung, der Haushalt macht sich auch nicht von alleine, und so passiert es: Marlo dreht langsam, aber sicher am Rad. Drew, ihr Mann, ist sympathisch, kümmert sich aber nur sporadisch um die Kinder und überhaupt nicht um den Hausarbeit, ein typischer Old-School-Familienvater. Er geht in seinem Beruf auf und verlässt sich ansonsten auf seine Frau. Es dauert eine Weile, bis Marlo selbst merkt, dass sie einfach nicht mehr kann. Eines Tages rastet sie aus, und da erinnert sie sich an das Angebot ihres wohlhabenden Bruders, der ihr nach Mias Geburt eine „Night Nannie“ finanzieren wollte, einen Babysitter auf Zeit für die Nachtstunden. Nach dem Motto: „Kenn ich nicht, will ich nicht“, hatte Marlo damals abgelehnt, auch weil sie sich nicht vorstellen konnte, ihr Baby einer Fremden anzuvertrauen. Doch in ihrer Not greift sie nun zum Telefon und lässt sich darauf ein, dass die Studentin Tully vorbeikommen darf. Tully kümmert sich wenig um Marlos Skepsis, sie macht gleich Nägel mit Köpfen, nimmt ihr das Baby ab und schickt Marlo ins Bett. Am nächsten Morgen stellt Marlo einigermaßen überrascht fest, dass alles in bester Ordnung ist. Zudem hat sie wunderbar geschlafen. Natürlich darf Tully wiederkommen. Aus den kurzen abendlichen Begegnungen vor dem Schlafengehen entwickelt sich zwischen den beiden Frauen eine Beziehung, die bald zur Freundschaft wird. Marlo geht es dabei von Tag zu Tag besser, was sich positiv auf ihr Familienleben auswirkt, vor allem aber auf sie selbst: Sie entdeckt sich selbst wieder und damit auch ihre Energie, ihre Gelassenheit und ihren Humor. Doch je besser es Marlo geht, desto klarer wird ihr, dass Tully sie bald wieder verlassen wird.

Die oscargekrönte Drehbuchautorin Diablo Cody beweist auch in ihrer dritten Zusammenarbeit mit Jason Reitman als Regisseur nach JUNO und YOUNG ADULT, dass sie realistische, starke Frauenrollen mit viel Sensibilität und einem scharfen, manchmal angenehm boshaften Blick auf unbequeme Lebenswahrheiten gestalten kann. Vielleicht ist TULLY ihr witzigster, sicherlich aber ihr reifster Film. Denn hier geht es weniger um eine postpartale Depression, besser bekannt als „Babyblues“, sondern vielmehr um eine ausgewachsene Lebenskrise, eine Midlife-Crisis vom feinsten. Wie es oft der Fall ist bei vorrangig psychischen Störungen, trägt auch hier das Problem die Lösung in sich. Marlo steht kurz davor, sich selbst zu verlieren, weil sie sich schon sehr lange kaum um sich selbst, ihre Wünsche und Bedürfnisse kümmert, stattdessen hat sie, so wie es das ungeschriebene Gesetz für die perfekte Frau verlangt, bei allem nur ihre Familie im Sinn. Sie ist für alles zuständig, und sie hat Schwierigkeiten damit, irgendetwas zu delegieren. Der Anspruch an sich selbst und die Ansprüche, die von außen an sie gestellt werden, würden sie zugrunde richten, wäre da nicht Tully als Retterin in der Not. Charlize Theron macht aus Marlo eine zunächst ganz normale Durchschnittsmutter. Zu Beginn spielt sie die Hochschwangere mit schwarzhumorigem Fatalismus, doch nach der Geburt mutiert sie endgültig zur Gefangenen ihrer Mutterrolle, vegetiert praktisch nur noch dahin in einem schier endlosen Kampf zwischen Wickeltisch, Windeleimern und Milchpumpen. Das alles spielt Charlize Theron mit beachtenswertem komischen Talent. Sie opfert sich auf und vernachlässigt dabei sich selbst, was nicht nur für ihren Körper, sondern auch für den Geist gilt. Von ihrer vormals noch deutlich sichtbaren Intelligenz sind nur noch Rudimente vorhanden. Erst die Freundschaft zu Tully und die lockeren Gespräche mit der jungen Frau, die beinahe ihre Tochter sein könnte, wecken wieder die Lebensgeister in ihr. Dank Tully und ihrer unkomplizierten, direkten Art ist Marlo in der Lage, Hilfe anzunehmen. Die unkonventionelle Tully, die auch schon mal ungeniert den Kühlschrank ihrer Auftraggeberin plündert, entpuppt sich als eine Art besonders wirksame Arznei für Marlo. Aber jedes Medikament, das etwas bewirkt, hat bekanntlich auch Nebenwirkungen und Spätfolgen … Mackenzie Davis spielt die Tully mit viel jugendlicher Frische und Cleverness, dabei wirkt sie sehr natürlich und voller Selbstvertrauen. Gegen dieses im besten Sinne moderne Mädchen wirkt Marlo deutlich älter, als sie ist. Das so zu spielen, erfordert viel Mut, und Charlize Theron zeigt auch hierbei und nicht nur in der Entwicklung, die Marlo durchmacht, zu welcher facettenreichen Darstellung sie fähig ist. Das Zusammenspiel der beiden Frauen funktioniert bestens.

Jason Reitman führt mit leichter Hand Regie und zeigt dabei viel Sinn für Humor und Dramatik. Diablo Codys anspruchsvolles und originelles Drehbuch, in dem sie die Freuden der Mutterschaft und des Familienlebens keinesfalls beschönigt, sondern als echte Herausforderung darstellt, hat er so geschickt in Szene gesetzt, dass bei aller Sensibilität glücklicherweise kein wehleidiger Mädelsfilm entstanden ist, sondern eine ziemlich handfeste, aber niemals seichte Geschichte mit dramatischen Effekten, die mal größer und mal kleiner ausfallen. Kaum betritt Tully zum ersten Mal die Szenerie, entsteht ein geheimnisvolles Gefühl der Bedrohung, das sich bald auflöst, aber unterschwellig erhalten bleibt. Das Misstrauen, das Marlo dieser jungen Frau entgegenbringt, die sich so verdächtig gut mit Babys auskennt, verwandelt sich in blindes Vertrauen, das ihre Gespräche immer intimer werden lässt und gleichzeitig dafür sorgt, dass die Spannung steigt. Das Prinzip der „Night Nannie“, in den USA bereits seit Jahren erprobt und in Deutschland – vielleicht leider? – noch weitgehend unbekannt, dient hier als Vehikel für eine übergeordnete Handlung, die ebenso gut in einen Thriller gepasst hätte. Dass dieser Film jedoch auch als Komödie letztlich so gut gelungen ist, ist einer echten Teamleistung zu verdanken: Dazu gehört das herausragende Drehbuch, die wunderbar harmonierenden Hauptdarstellerinnen Charlize Theron und Mackenzie Davis sowie eine inspirierte und sensible Inszenierung bis zum absolut überraschenden Schluss, über den hier kein einziges Wort verloren werden soll.

Gaby Sikorski