Der schlimmste Mensch der Welt

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2017 überraschte der norwegische Autorenfilmer Joachim Trier das Publikum mit dem übernatürlich angehauchten Coming-of-Age-Thriller „Thelma“, der Erinnerungen an Stephen Kings ersten veröffentlichen Roman „Carrie“ und dessen Leinwandadaption durch Brian De Palma weckte. Seine jüngste Spielfilmarbeit „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist nun wieder stärker in der Realität verankert und befasst sich eingehend mit der Überforderung, die nicht gerade wenige, vor allem junge, Menschen im Angesicht unserer an Möglichkeiten so reichen Gegenwart empfinden. Hier und da will Trier vielleicht etwas zu viel. Seine mit zahlreichen gesellschaftlichen Bezügen garnierte Liebeskomödie, bei der es sich nach „Auf Anfang“ und „Oslo, 31. August“ um den letzten Teil einer Oslo-Trilogie handelt, sprüht aber nur so vor amüsant-pfiffigen Ideen und hat eine mitreißende Hauptdarstellerin zu bieten.

Verdens verste menneske
Regisseur: Joachim Trier
Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt
Darsteller: Renate Reinsve, Anders Danielsen Lie, Herbert Nordrum, Maria Grazia Di Meo, Hans Olav Brenner, Vidar Sandem, Helene Bjørneby u. a.

Länge: 128 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Verleih/Vertrieb: Koch Films
Kinostart: 02.06.2022

FILMKRITIK:

Welchen Weg will ich beruflich einschlagen? Was soll ich studieren? Wann ist die Phase des Ausprobierens abgeschlossen? Und wie sieht es mit Partnerschaft und Familienplanung aus? Fragen über Fragen beschäftigen in „Der schlimmste Mensch der Welt“ die fast 30-jährige Protagonistin Julie (Renate Reinsve), die, wie uns ein Schnelldurchlauf zu Beginn vor Augen führt, gleich mehrere Arbeitsfelder erforscht. Medizin, Psychologie und Fotografie versetzen sie kurzzeitig in Begeisterung. Wirklich festlegen kann sich die junge Frau jedoch nicht, jobbt daher zunächst weiter in einer Buchhandlung und ist genervt, wenn sie in jedem zweiten Gespräch nach ihren Ambitionen gefragt wird. Die Auswahlmöglichkeiten mögen so groß wie nie zuvor sein. Gerade das hemmt allerdings auch die Entscheidungsfreudigkeit. Zudem spürt sie ständig Druck von außen.

Thema sind diese Dinge nicht zuletzt in ihrer Beziehung mit dem rund 15 Jahre älteren Comicautor Aksel (Anders Danielsen Lie), der im Gegensatz zu ihr mit seinen provokanten Arbeiten einen erfolgreichen Karriereweg beschreitet. Er selbst fühlt sich in einer Lebensphase angekommen, in der es langsam Zeit wird für eine eigene Familie. Julie hingegen glaubt, dafür noch nicht bereit zu sein, möchte vorher andere Erfahrungen sammeln und zweifelt deshalb zunehmend an ihrer Partnerschaft. Erst recht, als sie auf einer Hochzeit, zu der sie sich uneingeladen Zutritt verschafft, den sympathischen, ähnlich unentschlossenen Eivind (Herbert Nordrum) kennenlernt.

In Interviews beschreibt Joachim Trier sein neues Werk selbst als Liebesfilm. Wer dabei aber an eine romantische Komödie nach Hollywood-Strickmuster denkt, wird schnell eines Besseren belehrt. „Der schlimmste Mensch der Welt“ ist anders, aber in vielen Momenten trotzdem emotional packender als die nach Drehbuchformeln ablaufenden Romanzen, die man sonst vorgesetzt bekommt. Schon die Hauptfigur präsentiert sich in Renate Reinsves kraftvoller Darbietung deutlich widerspenstiger und komplexer. Julie ist sprunghaft, schwer fassbar, sucht nach ihrem Platz im Leben, richtet ihren Ärger über die eigene Unzufriedenheit mitunter gegen andere. Und doch kann man in vielen Augenblicken mit ihr mitfühlen, sie verstehen und folgt ihr gerne auf ihrem kurvenreichen Weg.

Standardsituationen des romantischen Kinos wandeln Trier und Ko-Drehbuchautor Eskil Vogt, mit dem er schon lange zusammenarbeitet, immer wieder auf clevere, unterhaltsame Weise ab. Ein Flirt wird hier zu einem herrlich unkonventionellen Ereignis. Und bei einer Trennung lassen die Macher unterschiedliche Stimmungsfacetten zu, halten die Szene länger, als man es gewohnt ist, was sie viel wahrhaftiger erscheinen lässt. Schön ist auch, dass die nie wirklich ausrechenbare Handlung permanent mit klugen Beobachtungen und Einsichten über das Individuum und die gesellschaftlichen Bedingungen aufwartet. Themen wie Sexismus und eine bewusstere Lebensweise werden meistens unverkrampft eingeflochten. Bloß gelegentlich wirken die Einwürfe vielleicht etwas überambitioniert. Nicht gebraucht hätte es die Einteilung in 12 Kapitel plus Prolog und Epilog und eine bis zum Ende nebulös bleibende, sich sporadisch einschaltende Erzählerin.

Trier aus dem Rahmen fallender Ansatz beschränkt sich nicht nur auf die Ebenen der Geschichte und der Charaktere. Auch die Inszenierung und die Bilder strotzen nur so vor eigenwilligen, kreativen Einfällen. Grandios ist etwa die Passage, in der eine frischverliebte Julie durch die Straßen Oslos rennt, in denen buchstäblich alles stillsteht. Wenngleich sich diese Sequenz als Tagtraum entpuppt, vermittelt sie in fast schon poetischer Manier den Gemütszustand der Protagonistin. Weil der Regisseur regelmäßig solche starken Impressionen findet, seinem Plot spannende Wendungen gibt und das Ensemble, allen voran die in Cannes für ihre Leistung ausgezeichnete Hauptdarstellerin, überzeugend aufspielt, wird es keine Sekunde langweilig.

 

Christopher Diekhaus