Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen

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Irgendwann kommt bei fortschreitender Demenz oder Gebrechlichkeit der Moment, an dem man alte Menschen nicht mehr alleine lassen kann. Neben einem Pflegeheim bleibt dann nur die berühmte „Polin“ als bezahlbare Möglichkeit. Aber was macht das mit den Frauen, die fern ihrer eigenen Kinder und Eltern ihr Privatleben komplett aufgeben, um rund um die Uhr für einen Pflegebedürftigen da zu sein? Die Regisseure Nadine Heinze und Marc Dietschreit verhandeln die Frage höchst unterhaltsam und mit tiefgründigem Humor.

Website: www.filmweltverleih.de

Deutschland 2019
Buch und Regie: Nadine Heinze, Marc Dietschreit
Darsteller: Emilia Schüle, Günther Maria Halmer, Fabian Hinrichs, Anna Stieblich
Länge: 109 Minuten
Verleih: Filmwelt Filmverleih
Kinostart: 22.7.2021

FILMKRITIK:

Eichhörnchen, so sagt man, wissen manchmal nicht mehr, wo sie ihre Wintervorräte vergraben haben. Vielleicht sind die putzigen Tierchen dem Senior Curt (Günther Maria Halmer) deshalb so sympathisch. Er vergisst in seiner Luxusvilla mit Blick auf die kleinen Nüssesammler eben auch so manches. Zum Beispiel, wie seine Tochter heißt, die sich seit Jahren um den demenzkranken Vater kümmert. Inzwischen ist die kontrollsüchtige Almut (Anna Stieblich) mit den Nerven am Ende. Helfen soll Marija (Emilia Schüle), eine 24-Stunden-Betreuungskraft aus der Ukraine. Sie braucht unbedingt Geld, um ihren fünfjährigen Sohn durchzubringen, den sie bei der Oma in der Heimat zurücklassen muss.

Die 27-Jährige, unsicher und einen Tick zu unterwürfig, nimmt eine Menge auf sich, um die neue Arbeitsstelle nicht gleich wieder zu verlieren. Aber wirklich recht machen kann sie es Almut trotzdem nie. Die verbietet der Jüngeren nicht nur das Rauchen am Fenster, sondern rümpft bereits über rote Schlüpfer die Nase und schikaniert die Untergebene, wo sie nur kann, ebenso hochnäsig wie spießig, eine rachsüchtige höhere Tochter mit Ordnungswahn. Nach einem heftigen Streit geschieht etwas Überraschendes: Almut bleibt tagelang verschwunden, ohne eine Kündigung auszusprechen.

„Iss‘, was die Mama gekocht hat“, hatte Curt ein paar Tage zuvor seiner Tochter befohlen. Es war der erste Hinweis, dass der alte Herr in Marija keine Pflegerin und Haushälterin sieht, sondern seine vor langer Zeit verstorbene Frau Marianne. Irgendwie funktioniert sein altersschwaches Gehirn ein wenig wie die Eichhörnchen. Die vergessen auch nicht sämtliche Vorratslager, sondern finden immerhin so viele Nüsse wieder, dass sie überleben können. Weil sich Curt als umso pflegeleichter erweist, je weniger man ihm seine Wunschphantasien raubt, lässt sich Marija auf den Rollentausch ein: von der rumgeschubsten Pflegerin zur standesgemäßen Gattin. Es beginnt eine Zeitreise in das Luxusleben der Gutbetuchten in den 1970ern, mit den alten Kostümen, dem edlen Geschirr, dem noblen Mercedes-Cabrio. Curt hat etwas gutzumachen gegenüber der vermeintlichen Ehefrau, die er im echten Leben gedemütigt und viel zu oft allein gelassen hat.

Geschickt legt das Debüt von Nadine Heinze und Marc Dietschreit falsche Fährten. Aus einem vermeintlichen Sozialdrama über sklavenartige Arbeitsbedingungen biegt es in eine unterhaltsame Tragikomödie mit märchenhaft skurrilen Zügen ab. Etwa wenn Curt seine „Frau“ zu einem Überraschungsausflug einlädt, sie ans Steuer bittet und zu einem noblen Gartenrestaurant dirigiert, wo er ihr dann zum Hochzeitstag gratuliert („Du glaubst wohl, das hätte ich auch vergessen“), vor den verdutzten Gästen an den Nebentischen eine Rede hält und dann das „Büffet“ für eröffnet erklärt. Gleichsam gelungen ist der Schachzug, die problematische Familiengeschichte, an der auch der schräge Sohn Philipp (Fabian Hinrichs) schwer zu tragen hat, nur scheibchenweise freizulegen – in ebenso rührenden wie amüsanten Kehrtwenden.

Klug ausbalanciert, driftet das Drehbuch der Autorenfilmer nie in Klamauk ab. Die Frage, ob man sich fremde Menschen kaufen sollte, bleibt im Hintergrund ebenso virulent wie die Problematik, wie weit man Demenzkranke manipulieren darf. Dank der nuancenreich agierenden Emilia Schüle erscheint Marija weder als klassisches Opfer noch als durchtriebene Aufsteigerin. Zwischen verschmitzter Komplizenschaft, echter Fürsorge und brennendem Trennungsschmerz gegenüber ihrer eigenen Familie vertraut sie auf die Instinkte der Menschlichkeit. Dass das nicht rührselig gerät, ist eine zirkusreife Leistung auf dem Drahtseil.

Peter Gutting