Der Job ist langweilig, die Familie nervt und ihre Liebschaften sind meist nur von kurzer Dauer: Ann versucht ihr Leben irgendwie in geordnete Bahnen zu lenken. In Wahrheit aber manövriert sie eher ungelenk und unsicher durch die Widrigkeiten des Alltags. „Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ ist bisweilen so unzugänglich und sperrig wie der Filmtitel, doch ein genaueres Hinsehen lohnt. Wer sich auf die von tiefschwarzem Humor und feiner Ironie durchzogene Tragikomödie einlässt, wird am Ende mit einem lebensnahen, wahrhaftigen Film belohnt. So absurd und befremdlich wie das Leben selbst.
The Feeling That The Time For Doing Something Has Passed
USA 2023
Regie: Joanna Arnow
Buch: Joanna Arnow
Darsteller: Joanna Arnow, Scott Cohen, Babak Tafti
Länge: 87 Minuten
Verleih: 24 Bilder
Kinostart: 12. Dezember 2024
FILMKRITIK:
Die New Yorkerin Ann (Joanna Arnow) ist Mitte 30 und fristet das unglückliche, festgefahrene Dasein einer gelangweilten Großstädterin. Die Jahre sind nur so an ihr vorbeigezogen und was hat Ann bisher erreicht? Wenn sie sich in ihrem Leben so umsieht: eigentlich recht wenig. Ihr Job in einem mittelständischen Unternehmen bietet wenig Abwechslung, ihre Familie ist nur am Streiten und ihre flüchtigen Beziehungen zu Männern verlaufen stets nach dem gleichen Muster. Während sie sich zunehmend entfremdet fühlt, versucht sie, endlich zu sich selbst und ihren wahren Bedürfnissen zu finden.
Doch bis Ann wirklich mit sich im Reinen ist, dauert es noch etwas. Der Zuschauer darf ihr so lange bei ihrer Reise durch die Irrungen und Wirrungen des Lebens beiwohnen und sie auf ihrem Selbstfindungstrip begleiten. Dass es dabei nicht immer spannend und überraschend zugeht, lässt bereits die Inhaltsbeschreibung erahnen. Und tatsächlich: Regisseurin Joanna Arnow, die neben der Hauptrolle auch das Verfassen des Skripts und den Schnitt übernommen hat, erklärt das Banale und Alltägliche zum Prinzip.
Was nach Spannungsarmut klingt, ist in Wahrheit die große Stärke dieses unaufgeregt und charmant erzählten Films. Schließlich kennt ein jeder von uns einige dieser (peinlichen) Momente und Ereignisse, die Ann in „Dieses Gefühl, dass die Zeit…“ durchstehen muss. Darunter das unangenehme Schweigen am Esstisch mit den lieben Verwandten oder der angestrengte, leidige Smalltalk mit einem enervierenden Arbeitskollegen.
Joanna Arnows Spielfilmdebüt gewährt somit unverstellte, authentische Einblicke in das ganz normale Leben einer ganz normalen Mittdreißigerin. Mit all ihren Stärken, Schwächen und Eigenheiten. Zu letzteren zählt Anns Vorliebe für kinky Rollenspiele und BDSM. Diese „Neigung“ lebt Ann mit ihrem älteren Liebhaber Allen (großartig: Scott Cohen) aus, allerdings haben sich in ihr Verhältnis Eintönigkeit und Ödnis eingeschlichen. Die Szenen mit Allen und einige der intimen Momente mit Anns anderen Liebhabern reichert Arnow ebenso gekonnt wie mutig mit absurden Ideen und schrägem Witz an. In diesen Sequenzen verlässt sie sich ganz auf ihr reduziertes Spiel mit Gestik und Mimik.
In einer der makabersten aber auch lustigsten Szenen kann man indes ihre Gesichtszüge nur erahnen: Mit Schweinsnase, geknebelt und einem Bondage-Toy im Mund stellt sich beim Betrachten ein echter Fremdschäm-Moment ein. Wie bei einem Verkehrsunfall kann man den Blick nicht von Ann in dieser Situation lassen, selbst wenn es schwerfällt. Mut beweist Arnow auch deshalb, da Hauptfigur Ann in all ihrer belanglosen Durchschnittlich- und Mittelmäßigkeit nicht immer sympathisch und nahbar erscheint. Ann ist bei weitem nicht der glattgebügelte Sympathieträger ohne Ecken und Kanten, wie er uns als Protagonist zu Identifikationszwecken in vielen anderen Filmen vorgesetzt wird.
„Dieses Gefühl, dass die Zeit…“ vertraut in seiner ganzen Machart auf einen spröden aber konsequenten Minimalismus. Deshalb und aufgrund der auf die Spitze getriebenen Ereignislosigkeit ganzer Passagen wirkt der Film zwangsläufig etwas sperrig und steif. Hinzu kommt der fast völlige Verzicht auf (Hintergrund-)Musik, wodurch die Bilder und die Szenerie noch ernster und steriler erscheinen. Doch das passt am Ende doch ganz gut zu diesem ungewöhnlichen Indie-Film, auf den man sich genauso einlassen sollte wie auf die widersprüchliche und verwirrte aber gerade deshalb so liebenswerte Ann.
Björn Schneider