Favoriten

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Als „Problembezirk“ muss der Wiener Bezirk Favoriten oft herhalten, der Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund ist hier besonders hoch, was sich auch in der Volksschule zeigt, an der Ruth Beckermann ihren Dokumentarfilm „Favoriten“ gedreht hat. Eine nüchterne und dabei doch empathische Studie, die nicht verklärt und idealisiert, sondern auch die gravierenden strukturellen Probleme des Schulsystems andeutet.

Webseite: https://grandfilm.de/favoriten/

Dokumentarfilm
Österreich 2024
Regie: Ruth Beckermann
Buch: Ruth Beckermann & Elisabeth Menasse

Länge: 118 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 19. September 2024

FILMKRITIK:

Premiere bei der Berlinale, selber Verleih, selbes Sujet: Unweigerlich drängt sich bei „Favoriten“ ein Vergleich mit Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ auf, der vor einigen Jahren für allgemeine Begeisterung sorgte und mit seinem idealistischen Alt-68er Lehrer zeigte, was an Schulen auch möglich ist. Der aber vielleicht auch eher eine Ausnahme zeigte, ein Ideal, das eben alles andere als die Norm darstellt.

Sein Äquivalent in „Favoriten“ heißt Ilkay Idiskut, eine türkischstämminge Wienerin Anfang 30. Sie ist Klassenlehrerin von 25 Schüler*Innen mit Namen wie Alper, Furkan, Selen, Natalia, Manessa, Fatima, Liemar, also allesamt junge Wiener mit Migrationshintergrund. Ein Fakt, der nie groß betont wird, der aber immer im Raum steht, der klar macht, dass diese Schüler*Innen es schwerer haben werden, als andere Kinder in Österreich.

Zwischen Herbst 2020 und Frühjahr 2023 filmte Beckermann immer wieder in der Klasse, vom zweiten bis zum vierten Schuljahr, also dem letzten, bevor es auf eine weiterführende Schule geht, im besten, aber auch seltenen Fall, aufs Gymnasium, meist auf die Mittelschule.

Viele der Momente und Situationen, die man inzwischen aus dem dokumentarischen Subgenre Schulfilm kennt, finden sich auch in „Favoriten.“ Kleine Streitigkeiten, die von der Lehrerin mit Geduld und dem Willen zur konstruktiven Auseinandersetzung gelöst werden, lustige Momente, wenn die Kinder kindliche Antworten auf erwachsene Fragen geben, Treffen mit den Eltern, eine neue Schülerin, die in diesem Fall kein Wort Deutsch spricht, rührende Szenen, wenn es am Ende ans Abschiednehmen geht.

Mit vielen Nahaufnahmen haben Beckermann und ihr Kameramann Johannaes Hammel das Geschehen eingefangen, so nahe sind sie bisweilen an den Kindern dran, dass man sich fragt, wie diese mit der Kamera vor der Nase überhaupt so gut auf die Fragen ihrer Lehrerin reagieren konnten. Später bekommen die Kinder dann von der Regisseurin selber Handys, können sich selber filmen, auch einmal den Spieß umdrehen und ihrer Lehrerin Fragen stellen.

Vieles läuft richtig an dieser Schule, in dieser Klasse, gerade angesichts einer offensichtlich sehr engagierten Lehrerin, die mit Geduld und Empathie auf ihre Schüler*Innen eingeht. Tut Ilkay Idiskut dies, weil sie selbst Migrationshintergrund besitzt und sich in die speziellen Propleme und Sorgen ihrer Schüler*Innen hineinversetzen kann? Fragen, die Ruth Beckermann nicht bewusst stellt, aber im Raum mitschwingen lässt. Ebenso wie die systemischen Probleme einer Schule in einem „Problembezirk“, in dem der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund besonders hoch ist, die Schulen oft fast segregiert wirken. Zu gern würde man wissen, was in einigen Jahren aus den Schüler*Innen geworden ist, welchen Platz sie in der österreichischen Gesellschaft finden werden. Dass das schwer werden wird macht Ruth Beckermanns „Favoriten“ unterschwellig deutlich und das macht diesen nur auf den ersten Blick einfach wirkenden Dokumentarfilm zu einem so immens politischen Film.

 

Michael Meyns