Land of Dreams

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Der artifizielle, beinahe surrealistische Film von Shirin Neshat und Shoja Azari spielt in einer dystopischen USA – ein abgeschottetes Land, in dem die Regierung sogar die Träume der Menschen kontrollieren will. Simin ist Traumfängerin – sie geht von Haus zu Haus und lässt sich Träume erzählen.
Prominent besetzt – Matt Dillon und Isabella Rosselini gehören zum Cast – und von einem der berühmtesten Drehbuchautoren, Jean-Claude Carrière, entwickelt, ist LAND OF DREAMS ein poetisch kunstvoller, verschlüsselter Film mit faszinierenden Bildern und einer eigenartigen Atmosphäre, irgendwo zwischen Endzeitstimmung und bitterer Satire. Wer bereit ist, sich auf ein exzeptionelles Kinoerlebnis einzulassen, wird hier reich belohnt werden.

Webseite: https://www.wfilm.de

Regie: Shirin Neshat, Shoja Azari
Drehbuch: Jean-Claude Carrière, Shoja Azari
Darsteller: Sheila Vand, Matt Dillon, William Moseley, Isabella Rossellini, Christopher McDonald, Anna Gunn
Kamera: Ghasem Ebrahimian

Musik: Michael Brook
Länge: 113 Minuten
Verleih: W-film

FILMKRITIK:

Simin liebt ihren Job. Sie arbeitet für den Zensus, die wichtigste Behörde der USA, wo alles kontrolliert wird. Zu Simins Arbeit gehört, dass sie alle Häuser abklappert, um sich Träume erzählen zu lassen. Manche sind sehr gern dazu bereit, andere weniger, selten bekommt Simin eine Absage. In ihrer Freizeit – sie lebt allein – schlüpft sie in die Rollen der Menschen, die sie interviewt hat. Sie verkleidet sich und erzählt die Träume, die sie protokolliert hat, auf ihrem eigenen Social Media-Kanal, und zwar in Farsi, denn Simin ist Iranerin. Über ihre Arbeit denkt sie nicht viel nach. Für einen „Spezialauftrag“ wird ihr ein Bodyguard zugewiesen: Alan (Matt Dillon), ein lakonischer Cowboy, der ziemlich coole Sprüche draufhat. Gemeinsam fahren sie zu einem geheimnisvollen Wüstendorf. Hinter verschlossenen Toren leben hier ehemalige iranische Revolutionäre. Von einem alten Mann erhält sie eine geheime Botschaft, die sie von nun an zu entschlüsseln versucht. Simin kommt ins Nachdenken – über ihre Arbeit, über das System, in dem sie lebt …

Obwohl prinzipiell linear erzählt, ist die Filmhandlung schwer fassbar. Sie spielt offenbar in einer nicht näher bezeichneten, nicht allzu fernen Zukunft. Die Gesprächspartner, deren Träume Simin aufzeichnet, leben in ihrem privaten, kleinen Glück – idealtypisch für den American Dream. Doch die scheinbare Idylle entlarvt sich immer öfter als Trugschluss, als Lebenslüge. Parallel dazu entwickelt sich Simin von einer Befehlsempfängerin zur kritischen Beobachterin. Die Tonalität des Films ist dabei meist leise und ruhig, Simin, herausragend gespielt von Sheila Vand, moduliert ihre Stimme kaum, sie spricht beinahe monoton, was zwischenzeitlich an eine Künstliche Intelligenz erinnert. Doch tatsächlich ist sie ein Mensch aus Fleisch und Blut, auch wenn sie ihre eigenen Traumata weitgehend unter Verschluss hält. Außer dem Bodyguard Alan gibt es noch einen zweiten Mann in ihrem Leben: Mark, der sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Seine Rolle bleibt mysteriös.

In LAND OF DREAMS treffen sich Poesie und Surrealismus – Jean-Pierre Carrière war Drehbuchautor in vielen Filmen von Luis Buñuel, zeichnet aber auch verantwortlich für Filme wie BORSALINO und BELLE DE JOUR, für VIVA MARIA und VALMONT. Ein vielseitiger Künstler also, der mit diesem Buch sein Lebenswerk vollendet hat: Er starb 2021 im Alter von 90 Jahren.

In jeder Minute ist der Drive zu spüren, mit dem sich Carrière, der ausgefuchste Profi, den Bilderwelten von Shirin Neshat und Shoja Azari nähert. Da wird mit Erwartungshaltungen gespielt, manches ist verblüffend oder sogar witzig. Die Bilder erinnern oft an Tableaus, was durch die statische Kamera unterstützt wird. Dazu erklingt ein Soundtrack, in dem sich – passend zum Sujet – Sphärenmusik und Countryklänge mischen. Dazu wird viel mit Klischees gespielt: endlose, schnurgerade Straßen ins Nirgendwo, die scheinbar glücklichen Kleinbürger in ihren Häuschen, die Wüste, die an Western-Szenarien erinnert, dazu Alan, der in seiner Cowboy-Attitüde manchmal an John Wayne erinnert und manchmal an James Stewart. Die Technologie, die in der Zensusbehörde gezeigt wird, ist beeindruckend, wird aber überhaupt nicht thematisiert; ebenso wenig wie das durchgängig schwarz gekleidete Zensus-Team, nur Simins Chefin trägt Weiß – das scheint also ein Privileg zu sein. Der Film arbeitet sehr viel mit solchen Symbolen und Verschlüsselungen, nicht alle erschließen sich sofort, vieles bleibt rätselhaft, doch es sind Entwicklungen zu erkennen, ausgelöst durch Simins Besuch im Camp der alten Revolutionäre.

LAND OF DREAMS ist tatsächlich hochgradig anspruchsvoll, er erfordert große Aufmerksamkeit und viel Bereitschaft zu Assoziationen und zum Sich-Fallenlassen in diese andere, sehr spezielle Welt. Ein Film, der in keine Schublade passt – und das macht ihn so einzigartig.

 

Gaby Sikorski