Nico

Zum Vergrößern klicken

Das Drama von Eline Gehring ist ein Beispiel für ein gelungenes Filmdebüt: Die Geschichte einer traumatisierten Frau, die nach einem rassistischen Überfall wieder auf die Beine kommen will und sich immer mehr zurückzieht. Wie Nico versucht, aus der Opferrolle herauszukommen und dafür ihre eigene Wut, Angst und Ohnmacht besiegen muss, ist von beinahe beängstigender Glaubwürdigkeit. Stark gespielt von Sara Fazilat in der Titelrolle, bietet der Film ein ungewöhnliches und angenehm realistisches Berlin-Bild, deutlich jenseits der coolen Mitte-Szene, die inzwischen im TV zu dominieren scheint.

Website: https://ucm.one/de/kinoverleih/

Deutschland 2021
Regie: Eline Gehring
Drehbuch: Sara Fazilat, Francy Fabritz, Eline Gehring
Darsteller: Sara Fazilat, Sara Klimoska, Javeh Asefdjah, Andreas Marquardt, Brigitte Kramer
Länge: 75 Minuten
Verleih: UCM ONE
Kinostart: 12.05.2022

FILMKRITIK:

Nico geht’s gut: Die Berlinerin mit iranischen Wurzeln hat eine kleine Wohnung, einen Job als Altenpflegerin, den sie gerne macht, eine beste Freundin … der Sommer kann losgehen! Doch dann wird sie urplötzlich auf dem Heimweg von einer Gruppe Jugendlicher überfallen, die sie beleidigen, demütigen und brutal zusammenschlagen. Nur mit knapper Not kann Nico überleben, doch als sie endlich aus dem Krankenhaus nach Hause zurückkehrt, hat sie sich verändert. Ihr Selbstbewusstsein ist verschwunden, ebenso ihr Humor und ihr Optimismus. Stattdessen wird sie von Ängsten und Erinnerungen gequält, kurz und schlecht: Aus der liebenswert lustigen Berlinerin ist ein anderer Mensch geworden, eine ungeduldige, aggressive Frau, die ganz eindeutig mit sich selbst nicht mehr zurechtkommt. Nicht einmal ihre Freundin Rosa kann ihr helfen. Nico merkt selbst, dass sich schnell etwas ändern muss – so kann es jedenfalls nicht weitergehen. Sie beschließt, einen Selbstverteidigungskurs zu machen und Karate zu lernen. Nie wieder Opfer sein! Das ist ihr Ziel, das der energische Kampfkunsttrainer Andy ihr immer wieder vor Augen führt. Er hilft ihr dabei, mit ihrer Wut umzugehen. Doch der erwartete Erfolg scheint sich nicht einzustellen – es geht Nico eigentlich nicht besser. Ob es wirklich der richtige Weg für sie ist, sich zu einer hammerharten Karatekämpferin zu entwickeln?

NICO ist Eline Gehrings Hochschul-Abschlussfilm – und damit ist ihr ein bemerkenswertes Werk gelungen, das in schönster Berliner DFFB-Tradition einen knallharten Realismus mit aktuellen politischen und sozialen Themen verknüpft. Die Kameraarbeit (Francy Fabritz) hat viel vom Dokumentarfilm, sie ist den Akteuren stets dicht auf den Fersen, lässt nicht locker, umrundet sie und kriecht manchmal bis in die Gesichter. Häufig laufen Personen in die Unschärfe hinein oder sie nähern sich aus der Unschärfe, ein typisches Kennzeichen für Dokumentarfilme. Das Drehbuch, das nicht ohne Schwächen ist, besonders was eine gewisse merkwürdige Häufung von Zufällen betrifft, bietet eine große Fallhöhe.

Zu Beginn ist Nico die lebenslustige, gut gelaunte Berlinerin, eine von vielen mit Migrationshintergrund, die sich ihr Leben mit bescheidenen Mitteln gut eingerichtet hat. Sie hat kaum Ansprüche, und die kann sie sich problemlos erfüllen. Der Überfall durch eine Gruppe von Neonazi-Jugendlichen, denen sie wohl eher zufällig begegnet, hinterlässt bei ihr ein gewaltiges Trauma. Die Folgen machen sich vor allem dadurch bemerkbar, dass Nico sich vollständig zurückzieht. Sie baut sich mit Hoodie-Kapuze und Mütze einen Panzer, hinter dem sie sich vor der Welt verstecken will. Es gibt durchaus Menschen, die ihr helfen wollen: Da sind ihre Patienten und vor allem Rosa, ihre beste Freundin. Aber es nützt alles nichts, niemand dringt zu ihr durch. Die Erinnerungen an die Attacke holen Nico ein, wo sie geht und steht. Wenn sie selbst beschließt, ein Kampfkunsttraining zu machen, dann ist das purer Überlebenswille.

Den Karatetrainer Andy spielt Andreas Marquardt, unter anderem bekannt aus Rosa von Praunheims großartigem Film HÄRTE. Er spielt sich selbst, einen ollen Berliner von der besonders brachial ruppigen Sorte, der sein gutes Herz hinter einer schroffen Fassade versteckt. Andy versucht es vor allem, Nico mit Rumbrüllen und hartem Training zu helfen, doch weder mit seiner Art noch mit seinem Credo vom Leben als Kampf kann er letztlich bei ihr landen. Was Nico tatsächlich braucht und will, weiß sie vielleicht selbst nicht so recht. Als sie zufällig Ronny begegnet, einer jungen Frau, die auf dem Rummelplatz arbeitet, tut ihr das richtig gut. Sie bewegt sich ganz anders, läuft gerade und hebt den Kopf wieder.

Sara Fazilat spielt das alles sehr, sehr bewegend. Sie ist zu Beginn die Berlinerin mit Herz und Schnauze, später wird sie zum Häuflein Elend, das sich trotzdem irgendwie aufrappelt. Die Darstellerin holt ihr Publikum ab, nimmt es mit und lässt es keinen Moment von der Leine. Wenn sie sich ihren Panzer baut, in den sie sich traumatisiert zurückzieht, dann leidet man ebenso mit ihr wie bei dem Überfall, den sie zunächst mit fassungsloser Verwunderung zur Kenntnis nimmt, bis ihr klar wird, dass sie in Gefahr ist. Ebenso unprätentiös wie ergreifend ist es, wenn sie ihre Lebensfreude wiederentdeckt. Dank Sara Fazilat wird dieses eher kleine Filmdebüt zu einem großen Kinoerlebnis.

Gaby Sikorski