The Banshees of Inisherin

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Ganz große Filmkunst – vielleicht eine der gemeinsten, auf jeden Fall aber eine der schwärzesten Komödien aller Zeiten und abgesehen davon mit sehr viel irischem Fluidum. Martin McDonagh („Three Billboards outside Ebbing, Missouri“, „Brügge sehen … und sterben?“) erzählt in wunderschönen Bildern eine bitterböse Geschichte. Es geht um Pádraic und Colm, zwei Männer, die gute Freunde waren. Bis gestern.

Auszeichnungen/Preise (Auswahl)
2022 Internationale Filmfestspiele Venedig, Coppa Volpi für den besten Darsteller an Colin Farrell sowie Preis für das beste Drehbuch

Irland, USA, Vereinigtes Königreich 2022
Drehbuch und Regie: Martin McDonagh
Darsteller: Colin Farrell, Brendan Gleeson, Kerry Condon, Barry Keoghan
Kamera: Ben Davis
Musik: Carter Burwell (Komponist)

Länge: 109 Minuten
Verleih: Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH
Kinostart: 5. Januar 2023

FILMKRITIK:

Doch heute ist alles anders. Pádraic, der wie immer an Colms Tür klopft, um mit ihm in den Pub zu gehen, muss erfahren, dass Colm nicht mehr mit ihm befreundet sein will. Irgendwelche plausiblen Gründe dafür scheint es nicht zu geben, spielen aber auch gar keine Rolle. „I just don’t like you no more“, meint Colm, als sei damit alles gesagt. Für ihn trifft das offensichtlich zu. Aber Pádraic sucht verzweifelt nach Gründen für Colms Verhalten, immer in der Hoffnung, dass sich alles aufklären wird und alles wieder so wird, wie es einmal war: die festen Verabredungen, die festen Plätze im Pub, die Gespräche über dieses und jenes und anderes. Doch Colm ist ganz und gar nicht gesprächsbereit, im Gegenteil: Für den Fall, dass Pádraic ihn nicht in Ruhe lässt, fährt er Drohungen auf, die er tatsächlich absolut ernst meint, wie sich bald herausstellt. Colm ist bereit, seinen Standpunkt mit größter Konsequenz zu vertreten. Daraus entwickelt sich eine Situation, die bald eskaliert und die Beteiligten in einen Strudel überraschender Ereignisse hineinreißt.

Eine Banshee ist in der irisch-keltischen Mythologie ein weiblicher Geist aus der Anderswelt, eine Art Todesengel. Wo eine Banshee auftaucht, wird bald jemand sterben. Für Insider ist also schon mit dem Filmtitel klar, dass es sich hier nicht um eine kuschlige Flauschkomödie handelt, sondern im Gegenteil um eine ziemlich ernste, allerdings auch ziemlich absurde Geschichte, eigentlich eine tragikomische Farce, in der ebenso lustvoll wie konsequent jede Menge Grenzen überschritten werden. Die ungewöhnliche Prämisse – ein Mann kündigt dem anderen scheinbar oder tatsächlich grundlos die Freundschaft auf – wird zum Ausgangspunkt einer Entwicklung mit unvorhersehbaren Folgen. Martin McDonagh, der seine Karriere als Theaterautor begann, zeigt auch hier wieder sein überwältigendes Talent für dramatische Situationen. Er siedelt seine Geschichte im Jahr 1923 an, als ein Bürgerkrieg in Irland tobt, von dem die kleine Insel Inisherin und ihre Handvoll Bewohner allerdings kaum etwas mitbekommen. Hier geht normalerweise alles seinen geregelten Gang. Die idyllischen Bilder vom kargen Inselleben täuschen, denn die große Frage für alle lautet: Was ist da passiert? Möglicherweise gibt es echte Gründe für Colm, der so schön auf der Geige fiedelt, warum er Pádraic die Freundschaft aufkündigt. Stimmt es, dass Colm weniger im Pub quasseln und dafür mehr komponieren möchte, um ein spätberufener irischer Mozart zu werden? Oder ist das nur vorgeschoben? Vielleicht ist die Geschichte von Colm und Pádraig eine Parabel auf den irischen Bürgerkrieg, der gerade auf dem Festland tobt. Oder überhaupt auf den Krieg? Sicherlich steckt all das und noch viel mehr in dem Film, der gleichzeitig unglaublich komisch und unglaublich traurig ist, in dem Lachen und Weinen, Freude und Abscheu extrem dicht beieinanderliegen. Nicht nur einmal bleibt das Lachen im Hals stecken. Doch tatsächlich ist die Geschichte selbst extrem spannend. Das liegt vor allem an McDonaghs szenischer Fantasie. Seine Neigung, extreme Situationen zu Ende zu denken und ihnen immer noch einen kleinen zusätzlichen Twist zu geben, tritt auch hier wieder in schönster Augenfälligkeit zutage. Das ist dann oft sehr komisch, manchmal sehr bewegend und gelegentlich ein bisschen gruselig. Für diese boshafte Tragikomödie hat Ben Davis wunderschöne Bilder in sanften, weichen Farben gestaltet, die das Herz erfreuen, während sich gleichzeitig menschliche Tragödien abspielen. Auch der Filmscore mit seinen irischen Folkklängen passt perfekt. Doch die größte und schönste Überraschung ist die Besetzung von Colin Farrell und Brendan Gleeson als Pádraig und Colm – nach 2008 mit „Brügge sehen … und sterben?“ wieder die beiden Stars, jeweils in einer Paraderolle: Brendan Gleeson spielt Colm als stoischen Sturkopf, der mit seinem Entschluss zunächst regelrecht aufblüht. Ein Kerl wie ein Baum, einsilbig bis schweigsam, eigensinnig bis zur Egozentrik. Diesem nicht besonders sympathischen Einzelgänger gibt Brendan Gleeson eine Doppelbödigkeit, die ihn manchmal beinahe liebenswert wirken lässt. Ganz anders Colin Farrell als Pádraig: gutherzig, freundlich und nicht unbedingt die hellste Kerze im Leuchter. Immerhin hat er etwas, was Colm nicht hat, aber vermutlich auch nicht vermisst, nämlich eine Verwandte. Pádraigs Schwester Siobhan hat nicht nur deutlich mehr auf dem Kasten als ihr Bruder, sie verfügt auch über eine gewisse praktische Vernunft. Vielleicht hat sie ja eine Idee, wie sich das Problem lösen ließe? Denn Pádraig leidet, er versteht Colm und die Welt nicht mehr.

Es wird nicht viel geredet in diesem Film, aber wenn, dann in allerfeinst geschliffenen Dialogen, und zwar in einem – in der Originalversion – ganz diskret, aber deutlich irisch angehauchten Englisch. Überhaupt wird in diesem Film die irische Lebensart gleichzeitig gezeigt und ironisiert. Also nix mit fröhlich guiness-seliger Touristenwerbung. Dazu hat McDonagh seine Handlung mit einer Unzahl von überraschenden Wendungen gespickt, die in ihrem bitterbösen Humor und mit ihrem schier überbordenden Einfallsreichtum irgendwie sehr irisch wirken, aber über eine tiefe theatrale Logik verfügen, die an griechische Tragödien erinnert, in denen dumme kleine Menschen vergeblich versuchen, sich gegen ihr Schicksal zu stemmen. Anders als bei den alten Griechen weiß man jedoch bei diesen beiden irischen Kerlen nie, was als nächstes passiert: Es kann etwas ganz schrecklich Schönes oder etwas ganz schön Schreckliches sein.

 

Gaby Sikorski