Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre

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30 Jahre lang hat immer derselbe Mann die Umfrage zum „beliebtesten Franzosen“ gewonnen, bis er auf eigenen Wunsch nicht mehr auf dieser Liste aufgetaucht ist. Die Rede ist weder von Jean-Paul Belmondo noch von Alain Delon – weder einem Sänger noch einem Koch oder gar einem Politiker wurde diese Ehre zuteil. Der beliebteste Franzose war tatsächlich jahrzehntelang der streitbare Armenpriester Abbé Pierre, der ein Leben lang die Armut auf der ganzen Welt bekämpfte und nicht müde wurde, den Menschen mitunter heftig ins Gewissen zu reden. Frédéric Tellier hat dieser französischen Ikone der Humanität und Barmherzigkeit jetzt ein bildgewaltiges, opulent ausgestattetes Biopic gewidmet.

Webseite: https://splendid-film.de/ein-leben-fuer-die-menschlichkeit-abbe-pierre

Frankreich 2023
Regie: Frédéric Tellier
Drehbuch: Frédéric Tellier, Olivier Gorce, Alain-Michel Blanc,
Darsteller: Benjamin Lavernhe, Emmanuelle Bercot, Michel Vuillermoz, Antoine Laurent, Alain Sachs
Kamera: Renaud Chassaing
Musik: Bryce Dessner

Länge: 137 Minuten
Verleih: Splendid Film
Start: 04.07.2024

FILMKRITIK:

Henri Groués wurde 1912 in Lyon in ein äußerst wohlsituiertes Elternhaus hineingeboren. Die Privilegien, die er auf Grund seiner Herkunft genoss, waren ihm einigermaßen egal. Schon früh beschloss er, es seinem philanthropisch gesinnten Vater gleich zu tun und mit allen Mitteln gegen die Armut zu kämpfen. Er trat mit 20 Jahren dem Kapuziner-Orden bei, schloss sich im 2. Weltkrieg der Resistance an und baute nach 1945 unter dem selbst gewählten Namen Abbé Pierre ein beeindruckendes Lebenswerk auf: die Emmaus-Stiftung, die weltweit in 43 Ländern auf vielfältige Weise für arme und entrechtete Menschen eintritt. Bis zu seinem Tod im hohen Alter von 94 Jahren ging Abbé Pierre dabei nie einer Kontroverse aus dem Weg. Stets erhob er seine Stimme für die Schwächsten der Gesellschaft, um sie im Kampf gegen die Mächtigen zu unterstützen.

Dieses ganze, ausgefüllte Leben versucht Regisseur und Drehbuch-Ko-Autor Frédéric Tellier in 137 Kino-Minuten abzudecken. Das gelingt ihm erstaunlich gut, nicht zuletzt aufgrund der wirklich opulenten Ausstattung, in der das Leben von Abbé Pierre über beinahe ein komplettes Jahrhundert wieder erwacht. Auf diese Weise sind große, mitreißende Kino-Bilder entstanden.

Die Besetzung der Titelrolle mit dem eigentlich auf leichtere Kinokost spezialisierten Benjamin Lavernhe („Birnenkuchen mit Lavendel“) überrascht zunächst, doch er erfüllt seine Aufgabe mit Bravour. Ein Sonderlob hat sich hier die Maske verdient, die den Alterungsprozess, den Lavernhe während der Geschichte durchmacht, mit absoluter Perfektion gestaltet hat. Lavernhe zeigt die Leidenschaft des Abbé Pierre für sein Lebenswerk, sein Temperament, aber auch seine Zweifel, die ihn bis ins hohe Alter verfolgen. Emmanuelle Bercot setzt als Lucie Courtaz, Pierres langjährige Vertraute, einen beeindruckenden schauspielerischen Gegenpol in ihrer zurückhaltend emotionalen Besonnenheit.

Der Regisseur Frédéric Tellier hat sich offenbar vorgenommen, das ganze lange und beeindruckende Leben des Abbé Pierre möglichst komplett zu präsentieren. Da werden einige Stationen doch sehr schnell, vielleicht zu schnell abgehakt. Man wünscht sich gelegentlich, dass der Film mehr in die Tiefe gehen würde, um auch die Widersprüche seines facettenreichen Titelhelden auszuloten. Andererseits entsteht aber auch der durchaus positive Eindruck eines cineastischen Kraftakts, der Tellier hier gelungen ist. Der Appellcharakter des Films wird dabei mal mehr, mal weniger offensichtlich – der Kampf gegen Armut und Rechtlosigkeit ist eine Sisyphosarbeit und wird vermutlich niemals enden, ebenso wie die Notwendigkeit, immer wieder darauf aufmerksam zu machen.

Das wird besonders deutlich am Ende des Films und damit auch am Ende der Lebensreise von Abbé Pierre, wenn Tellier seinen Protagonisten auf einen veritablen „Stairway to Heaven“ schickt. Die letzten Bilder zeigen in dokumentarischer Form, wie Abbé Pierres Lebenswerk, der Kampf gegen die Armut, fortgesetzt wird. Und wie er dadurch weiterlebt.

 

Gaby Sikorski