Ein Schweigen

Zum Vergrößern klicken

Worte können schmerzen, Schweigen noch viel mehr, vor allem langwieriger. Das ist die Essenz von Joachim Lafosses dichtem, düsteren Drama „Ein Schweigen“, der für Kenner des realen Falles deutlich an die Dutroux-Affäre und vor allem die folgende Anklage gegen den beteiligten Anwalt Victor Hissel basiert.

Un Silence
Frankreich/ Belgien 2023
Regie: Joachim Lafosse
Buch: Joachim Lafosse, Chloé Duponchelle und Paul Ismaël
Darsteller: Daniel Auteuil, Emmanuelle Devos, Matthieu Galoux, Jeanne Cherhal, Louise Chevillotte, Nicolas Buysse

Länge: 100 Minuten
Verleih: Arsenal
Kinostart: 13. Juni 2024

FILMKRITIK:

Der Staranwalt François (Daniel Auteuil) verteidigt die Eltern der Opfer in einem aufsehenerregenden Prozess gegen einen Serienkiller, der jahrelang Kinder und Jugendliche entführt hatte, sie gefangen hielt, sexuell missbrauchte und schließlich ermordete. Die Presse lagert vor dem ausladenden Haus der Familie, sensationslüstern und gierig nach möglichst schlüpfrigen Informationen über den Fall, der das ganze Land in Atem hält.

Doch dann gerät François selbst unter Verdacht, auf seinem Computer findet sich kinderpornografisches Material. Nur zur Recherche für den aktuellen Fall habe er sich mit diesen Bildern beschäftigt, verteidigt sich der Anwalt, doch seine Frau Astrid (Emmanuelle Devos) weiß es besser: Hinter der gutbürgerlichen, wohlhabenden Fassade verbirgt sich ein dunkles Geheimnis, eine lange zurückliegende Anschuldigung, die Astrid bislang meist für sich behalten hat.

Die ältere Tochter Caroline (Louise Chevillotte) weiß um das Familiengeheimnis, ist deswegen schon lange von zu Hause ausgezogen und hat den Kontakt zum Vater weitestgehend eingestellt. Es ist der jüngere Sohn Raphael (Matthieu Galoux), der im Zuge der Ermittlungen realisiert, was sein Vater ist. Wie in der ersten Szene deutlich wird, greift er schließlich zu einer drastischen Reaktion und sticht seinen Vater nieder.

Ausgehend vom Ende geht Joachim Lafosse in seinem Film „Ein Schweigen“ zurück zu m Anfang, rollt jedoch nicht einfach nur auf was passiert ist. Auch wenn sein Drama bisweilen aufgebaut ist wie ein Krimi oder ein Thriller, nach und nach enthüllt wird, wie die Ereignisse der Vergangenheit Raphaels Tat in der Gegenwart bedingten, geht es Lafosse nicht einfach nur um eine leicht dramatisierte Nacherzählung realer Ereignisse.

Zwar basiert „Ein Schweigen“ in vielen Aspekten auf dem Fall des belgischen Serienkillers Marc Dutroux, der wegen Entführung, Vergewaltigung und Mord zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und vor allem auf Victor Hissel, ein Anwalt der Eltern zweier Opfer Dutroux, der selbst des Besitzes von Kinderpornographie schuldig gesprochen wurde. Doch wie so oft in seinen Filmen, geht es Lafosse weniger um das wie, als um das warum, weniger um das, was die Täter antreibt, als die Folgen für die Opfer.

Die sind im Fall von „Das Schweigen“ Astrid und Raphael, die eine, die viel zu lange geschwiegen hat, der andere, der nicht mehr schweigen kann und will. Dass der Täter, dass  François dabei von Daniel Auteil gespielt wird, einem der beliebtesten Schauspieler Frankreichs, erweist sich als besonders effektiver Schachzug. Meist hat Auteil in seiner langen Karriere umgängliche, sympathische Figuren gespielt, die ein wenig verschlossen sein mögen, aber doch auf der Seite des Rechts standen, sich für das Gute eingesetzt haben. So fragt man sich lange, was den Sohn nur dazu gebracht haben kann, seinen Vater anzugreifen, versucht, Erklärungen für den Besitz der Kinderpornographie zu finden, auch Gründe dafür, dass Astrid jahrelang geschwiegen hat, nicht aus der Ehe floh. Und genau darum geht es Lafosse in seinem Drama, das ohne falsche, aufgesetzte Emotionen von einer Familie erzählt, die es sich in einem Lügengeflecht bequem gemacht hat und nun nicht mehr herauskommt. Die Schuldfrage mag am Ende zwar eindeutig sein, doch die Ambivalenz überwiegt.

 

Michael Meyns